»Haben Sie die Leute draußen gesehen?«, fragt Tenenboym, und der goldene Zahnstocher klickt gegen einen Prämolar. »Im Fernsehen?«
Landsman schüttelt den Kopf. »Haben sie getanzt?«
»Und wie. Sind in Ohnmacht gefallen. Haben geweint. Ein Massenorgasmus.«
»Nicht auf leeren Magen, Tenenboym, ich bitte Sie.«
»Haben die Araber gesegnet, weil sie gegeneinander kämpfen. Haben das Gedenken an Mohammed gesegnet.«
»Ganz schön grausam.«
»Einer von diesen Schwarzhüten hat gesagt, jetzt würde er ins Land Israel ziehen und sich einen guten Platz sichern für die Zeit, wenn Messias auftaucht.« Tenenboym nimmt den Zahnstocher aus dem Mund und untersucht die Spitze nach einer Spur von Bodenschätzen, dann führt er ihn enttäuscht wieder ein. »Wenn Sie mich fragen, kann man diese ganzen Spinner in ein großes Flugzeug stecken und rüberschicken, ein schwarzes Jahr auf sie.«
»Das sagen Sie, Tenenboym?«
»Ich setze mich sogar selbst ans Steuer.«
Landsman stopft den Brief der Joyce/Generali-Gruppe zurück in den Umschlag und schiebt ihn Tenenboym über die Theke zu.
»Werfen Sie den für mich weg, Tenenboym, ja?«
»Sie haben noch dreißig Tage, Detective«, sagt Tenenboym. »Sie finden schon was.«
»Darauf können Sie sich verlassen«, sagt Landsman. »Wir werden alle was finden.«
»Es sei denn, es findet uns zuerst, stimmt’s?«
»Was ist mit Ihnen, Tenenboym? Dürfen Sie Ihre Stelle behalten?«
»Mein Status wird noch geprüft.«
»Klingt hoffnungsvoll.«
»Oder hoffnungslos.«
»Das eine oder das andere.«
Mit dem Elevatoro fährt Landsman in den fünften Stock. Er geht den Korridor entlang, den Mantel an einem gekrümmten Finger über die Schulter geworfen, und löst mit der anderen Hand seine Krawatte. Die Tür zu seinem Zimmer summt ihr schlichtes Gedicht: fünf null fünf. Es bedeutet nichts. Lichter im Nebel. Drei arabische Ziffern. Eigentlich in Indien erfunden, wie auch das Schachspiel, aber erst durch die Araber verbreitet. Sunniten, Schiiten. Syrer, Ägypter. Landsman fragt sich, wie lange es dauert, bis die verschiedenen kämpfenden Splittergruppen in Palästina merken, dass keine von ihnen für das Attentat verantwortlich ist. Ein, zwei Tage, vielleicht eine Woche. Gerade lange genug, um eine verhängnisvolle Verwirrung auszulösen, sodass Litvak seine Jungs an Ort und Stelle befördern und Cashdollar Unterstützung aus der Luft schicken kann. Und ehe man sich versieht, ist Tenenboym Nachtportier des Luxington Parc, Jerusalem.
Landsman legt sich aufs Bett und holt das Reiseschachbrett hervor. Bei der Verfolgung des Mörders von Mendel Shpilman und Naomi Landsman hüpft seine Aufmerksamkeit von einem Quadrat zum anderen, huscht an den Feldlinien entlang. Zu seiner Überraschung und seiner Erleichterung stellt er fest, dass er schon weiß, wer der Mörder ist, es ist der aus der Schweiz stammende Physiker, Nobelpreisträger und mittelmäßige Schachspieler Albert Einstein. Einstein mit seinem Haarwust, seiner riesigen Strickweste und den Augen, die wie Tunnel tief in die Dunkelheit der Zeit reichen. Landsman verfolgt Albert Einstein über das milchweiße, kalkweiße Eis, hüpft von einem überschatteten Quadrat zum nächsten, springt über relativistische Schachbretter von Schuld und Sühne, über das imaginäre Land der Pinguine und Eskimos, das die Juden nie so recht für sich beanspruchen konnten.
Sein Traum macht einen Rösselsprung, und mit dem ihr eigenen Eifer legt ihm seine kleine Schwester Naomi Einsteins berühmten Beweis für die ewige Wiederkehr des Juden dar, der nur in Form des ewigen Exils der Juden zu erbringen sei, ein Beweis, den der große Mann aus der Beobachtung der flatternden Tragfläche eines Flugzeugs und eines abtreibenden dunklen Rauchpilzes ableitete, der aus dem Hang eines eisigen Berges aufstieg. Landsmans Traum kalbt und bringt weitere langsame Eisbergträume hervor, und das Eis sirrt fluoreszierend. Irgendwann wird das Summen, das Landsman und sein Volk seit Anbeginn der Zeit peinigt und das manche in ihrer Dummheit für die Stimme Gottes halten, im Fenster von Zimmer 505 gefangen wie Sonnenlicht im Herzen eines Eisbergs.
Landsman schlägt die Augen auf. In den Spalten des Rollos sirrt Tageslicht wie eine gefangene Fliege. Naomi ist wieder tot, und dieser Narr von Einstein hat keine Schuld an dem Verbrechen im Fall Shpilman. Landsman weiß überhaupt nichts. Er fühlt einen Schmerz im Bauch, den er zuerst für Trauer hält, doch dann stellt er fest, dass er Hunger hat. Und zwar auf Krautwickel. Er sieht auf seinem Shoyfer nach der Uhrzeit, aber der Akku ist leer. Als Landsman unten an der Rezeption anruft, teilt ihm der Hotelangestellte mit, dass es neun Minuten nach neun am Donnerstagmorgen ist. Krautwickel! Mittwochs ist immer rumänische Nacht im Vorsht, und Mrs. Kalushiner hat am nächsten Morgen oft noch einen Rest übrig. Die alte Krähe macht die besten Sarmalis in Sitka. Leicht und schwer zugleich, eher scharf-pfeffrig als süß-sauer, besprüht mit frischer saurer Sahne, verziert mit zarten Dillzweiglein.
Landsman rasiert sich und zieht seinen Anzug und die Krawatte vom Türknauf an. Er ist bereit, sein eigenes Körpergewicht in Sarmalis zu verzehren. Aber als er nach unten geht, wirft er einen kurzen Blick auf die Uhr über den Postfächern und merkt, dass er neun Minuten zu spät ist für seine Anhörung vor dem Ausschuss.
Als Landsman wie ein Hund auf glatten Fliesen den Korridor des Verwaltungsmoduls hinunter zum Zimmer 102 rutscht, hat er zweiundzwanzig Minuten Verspätung. Er findet dort nichts außer einem langen furnierten Tisch mit fünf Stühlen, jeder für ein Ausschussmitglied, und seiner Vorgesetzten auf der Tischkante, die ihre verschränkten Knöchel baumeln lässt. Ihre spitzen Pumps zielen direkt auf Landsmans Herz. Die fünf großen Lederstühle mit der hohen Rückenlehne sind leer.
Bina sieht aus wie die Hölle, nur noch heißer. Ihr möwenbraunes Kostüm ist zerknittert und falsch geknöpft. Ihr Haar scheint mit einem Plastikstrohhalm zurückgebunden zu sein. Ihre Strumpfhose ist längst fort, ihre Beine sind nackt und mit blassen Sommersprossen besprenkelt. Mit sonderbarer Freude ruft sich Landsman in Erinnerung, dass sie Feinstrümpfe mit Laufmasche immer in den Müll warf, sie zu einem wütenden Pompon knüllte, bevor sie im Eimer landeten.
»Hör auf, mir auf die Beine zu gaffen!«, sagt sie. »Lass das, Meyer. Sieh mir ins Gesicht!«
Landsman gehorcht und schaut direkt in die Bohrlöcher ihres doppelläufigen Blicks.
»Ich habe verschlafen«, sagt er. »Tut mir leid. Die haben mich vierundzwanzig Stunden festgehalten, und als —«
»Mich einunddreißig Stunden«, sagt sie. »Ich bin gerade rausgekommen.«
»Also scheiß erst mal auf mich und mein Gejammer.«
»Erst mal.«
»Wie war’s bei dir?«
»Die waren so nett«, sagt Bina verbittert. »Ich bin total zusammengeklappt. Hab denen alles erzählt.«
»Ich auch.«
»Nun«, sagt sie und weist mit erhobenen Handflächen auf den Raum um sich herum, als hätte sie gerade etwas verschwinden lassen. Ihr lustiger Tonfall ist kein gutes Zeichen. »Rate mal!«
»Ich bin tot«, versucht es Landsman. »Der Ausschuss hat mich mit Ätzkalk bestreut und untergepflügt.«