»Es sieht folgendermaßen aus«, sagt sie. »Eben gerade, um acht Uhr neunundfünfzig, bekam ich hier in diesem Raum einen Anruf auf dem Handy. Nachdem ich mich zuvor bei der Bundespolizei völlig zum Affen gemacht und mir den Hals wundgeschrien hatte, damit die mich freilassen und ich rechtzeitig hier bin, um sicherzustellen, dass ich auf dem Stuhl hinter dir sitze, im Falle des Falles aufstehe und meinen Detective unterstütze.«
»Hm.«
»Die Anhörung wurde abgesagt.«
Bina greift in ihre Tasche, wühlt darin herum und zieht eine Waffe hervor. Landsman fügt sie ein in Binas Arsenal aus Gewehrlauf-Blick und spitzen Schuhen. Eine M-39 mit kurzem Lauf. An einem Faden baumelt ein Etikett. Bina wirft sie im Bogen in Richtung von Landsmans Kopf. Er kann die Waffe fangen, bekommt aber die Dienstmarkenhülle nicht richtig zu fassen, die hinterhergeflogen kommt. Dann folgt ein kleines Tütchen mit Landsmans Anstecken Eine weitere kurze Durchsuchung ihrer Tasche bringt ein tödlich wirkendes Formular mit seinen Henkern, der dreifachen Ausfertigung, hervor. »Wenn Sie weitermachen und sich den Hals mit diesem DPD 2255 brechen, Detective Landsman, sind Sie bei voller Bezahlung und allen Vorzügen wieder aktives Mitglied der Distriktpolizei, Abteilung Sitka Central.«
»Ich bin also wieder im Dienst.«
»Für wie lange, fünf Wochen noch? Jubel …«
Landsman wiegt die Scholem in der Hand wie ein shakespearischer Held den Totenschädel.
»Ich hätte eine Million Dollar verlangen sollen«, sagt er. »Ich wette, die hätte er auch noch aufgetrieben.«
»Er soll verflucht sein«, sagt Bina. »Die sollen alle verflucht sein. Ich hab immer gewusst, dass es sie gibt. Da unten, in Washington. Und da oben, über unseren Köpfen. Die halten die Fäden in der Hand. Geben den Ton vor. Natürlich hab ich das gewusst. Wir alle wussten es. So sind wir schließlich groß geworden, oder? Wir sind hier nur gelitten. Gäste des Hauses. Aber die ganze Zeit wurden wir gar nicht beachtet. Uns selbst überlassen. Es war leicht, sich etwas vorzumachen. Sich einzubilden, eine gewisse Autonomie zu besitzen, in Maßen, nichts Großartiges. Ich dachte, ich würde im Dienst der Allgemeinheit stehen. Verstehst du? Der Gemeinschaft dienen. Das Gesetz hochhalten. Aber in Wirklichkeit habe ich nur für Cashdollar gearbeitet.«
»Du meinst, ich hätte entlassen werden sollen, oder?«
»Nein, Meyer.«
»Ich weiß, dass ich immer ein bisschen übertreibe. Auf meinen Bauch höre. Unberechenbar und so weiter.«
»Meyer, glaubst du wirklich, dass ich sauer bin, weil du deinen Ausweis und die Pistole zurückbekommen hast?«
»Ähm, deswegen nicht unbedingt, nein. Aber weil die Anhörung abgesagt wurde. Ich weiß, wie wichtig es dir ist, dass alles nach Vorschrift läuft.«
»Ja, es ist mir wichtig, dass alles nach Vorschrift läuft«, sagt sie mit belegter Stimme. »Ich glaube an das, was geschrieben steht.«
»Ich weiß.«
»Wenn du und ich etwas mehr auf die Vorschriften geachtet hätten«, sagt sie, und etwas Gefährliches scheint sich zwischen ihnen zu erheben. »Du und dein Bauchgefühl, ein schwarzes Jahr auf euch beide.«
Da will er sie ihr mitteilen, die Geschichte, die er sich seit nunmehr drei Jahren erzählt. Wie er, nachdem Django aus ihrem Leib geschält wurde, den Arzt im Gang vor dem OP anhielt. Bina hatte Landsman angewiesen, diesen guten Arzt zu fragen, ob es irgendetwas gäbe, einen Zweck, ein Ziel, eine Studie, dem die halb ausgewachsenen Knochen und Organe zugeführt werden könnten.
»Meine Frau wüsste gerne«, hatte Landsman begonnen und dann gezögert.
»Ob es einen sichtbaren Defekt gab?«, fragte der Arzt. »Nein. Nichts. Das Baby sah ganz normal aus.« Zu spät, der Schrecken blühte schon in Landsmans Gesicht, fügte der Arzt hinzu: »Natürlich heißt das nicht, dass alles in Ordnung war.«
»Natürlich nicht«, sagte Landsman.
Er sah den Arzt nie wieder. Das endgültige Schicksal des kleinen Körpers, des Jungen, den Landsman dem Gott seines düsteren Bauchgefühls geopfert hatte, war etwas, das zu ermitteln Landsman weder das Herz noch die Lust hatte.
»Ich habe denselben beschissenen Deal gemacht, Meyer«, sagt Bina, bevor er ihr beichten kann. »Um meine Ruhe zu haben.«
»Damit du Bulle bleiben kannst?«
»Nein. Du.«
»Danke«, sagt Landsman. »Vielen Dank, Bina. Ich bin dir dankbar.«
Sie drückt ihr Gesicht in die Hände und massiert sich die Schläfen.
»Ich bin dir auch dankbar, Meyer«, sagt sie. »Ich bin dir dankbar, dass du mir klargemacht hast, wie kaputt das alles hier ist.«
»Gern geschehen«, sagt er. »Freut mich, dass ich helfen konnte.«
»Dieses Arschloch von Cashdollar. Bei dem bewegt sich kein Haar. Als ob es auf seinem Kopf festgeschweißt wäre.«
»Er meinte, er hätte nichts mit Naomis Tod zu tun«, sagt Landsman. Er hält inne, beißt sich auf die Lippe. »Er meinte, es war der Typ, der vorher auf seinem Posten saß.«
Landsman versucht, den Kopf hochzuhalten, als er das sagt, doch schnell stellt er fest, dass er auf die Nähte seiner Schuhe blickt. Bina bewegt den Arm, zögert und drückt dann seine Schulter. Zwei geschlagene Sekunden lässt sie die Hand auf ihm ruhen, gerade lang genug, um ein oder zwei Kerben in Landsman zu schlitzen.
»Er hat auch jede Beteiligung bei Shpilman abgestritten. Ich habe aber vergessen, ihn nach Litvak zu fragen.« Landsman sieht auf, und Bina nimmt ihre Hand fort. »Hat Cashdollar dir gesagt, wo sie ihn hingebracht haben? Ist er unterwegs nach Jerusalem?«
»Er tat ganz geheimnisvoll, aber ich glaube, er hatte einfach keine Ahnung. Ich habe ihn telefonieren hören, er meinte, sie würden Gerichtsmediziner aus Seattle holen, die das Zimmer im Blackpool untersuchen sollen. Vielleicht sollte ich das aber auch hören. Ich muss allerdings sagen, dass die mir alle ein bisschen ratlos vorkamen, was unseren Freund Alter Litvak angeht. Meyer, die haben offenbar keine Ahnung, wo er ist. Vielleicht hat er das Geld genommen und ist abgehauen. Er könnte längst auf dem Weg nach Madagaskar sein.«
»Möglich«, sagt Landsman, und dann langsamer: »Möglich.«
»Gott, hilf mir, da kommt wieder so ein Bauchgefühl.«
»Bina, du hast gesagt, dass du mir dankbar bist.«
»Auf zweideutige, ironische Art, ja.«
»Hör zu, ich könnte ein wenig Unterstützung gebrauchen. Ich möchte mir noch einmal Litvaks Zimmer ansehen.«
»Wir können nicht ins Blackpool, Meyer. Der ganze Laden ist von der Bundesbehörde abgeriegelt.«
»Ich will ja nicht ins Blackpool, sondern darunter.«
»Darunter?«
»Ich habe gehört, dass da, nun ja, dass es da eventuell Tunnel geben soll.«
»Tunnel.«
»Warschau-Tunnel werden sie angeblich genannt.«
»Ich soll dir die Hand halten«, sagt sie. »In einem tiefen, dunklen, schrecklichen alten Tunnel.«
»Nur im übertragenen Sinn«, sagt er.
43.
Oben auf der Treppe des Zamenhof holt Bina eine als Schlüsselanhänger konzipierte Taschenlampe aus ihrer Rindsledertasche und reicht sie Landsman. Sie wirbt für oder symbolisiert möglicherweise die Dienste eines Bestattungsinstituts aus Yakovy. Dann räumt Bina verschiedene Akten, einen Packen juristischer Dokumente, eine hölzerne Haarbürste, eine People und einen mumifizierten Bumerang in einem Frischhaltebeutel in ihrer Tasche beiseite, der vielleicht einmal eine Banane gewesen ist, und präsentiert ein an Sadomasospielchen erinnerndes, schlaffes schwarzes Geschirr, an dem eine Art runde Dose hängt. Sie schiebt den Kopf hinein und verstrickt ihr Haar mit dem schwarzen Netz. Als sie sich hinsetzt und den Kopf zu Landsman umdreht, leuchtet eine silberne Linse auf und verblasst wieder. Landsman spürt die drohende Dunkelheit und fühlt, wie sich das Wort Tunnel in seinen Brustkorb gräbt.