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Es war dunkel, als sie aus der Luke herausstiegen. Mike hatte erwartet, an Bord der LEOPOLD gebracht zu werden, doch das Tauchboot war neben einem uralten, rostigen Frachter längsseits gegangen.

Obwohl Mike vor Kälte und Aufregung zitterte, sah er sich aufmerksam um, während er über die schmale Strickleiter zum Deck des größeren Schiffes hinaufstieg. Viel gab es allerdings nicht zu entdecken. Es war spät in der Nacht, und sie befanden sich mehr als eine Meile von der Küste entfernt. Winterfeld konnte nicht riskieren, einer Patrouille in die Hände zu fallen. Allein das Risiko, mit diesem Tauchboot die Themse hinauf bis in den Hafen von London zu fahren, mußte ungeheuer groß gewesen sein.

Die Geschichte kam Mike immer rätselhafter vor. Natürlich hatte er schon von Unterseebooten gehört - nicht nur die deutsche Kriegsmarine, sondern auch die einiger anderer Staaten verfügten über einige dieser gepanzerten Schiffe, die zwanzig oder auch fünfzig Meter unter der Wasseroberfläche zu fahren vermochten und tagelang dort bleiben konnten, wenn es sein mußte. Ein solches Schiff mußte unvorstellbar kostbar sein. Was um alles in der Welt glaubte Winterfeld in diesen Papieren zu finden, daß er tatsächlich eines dieser Schiffe aufs Spiel setzte, nur um Mike habhaft zu werden?

Kräftige Hände streckten sich ihm entgegen und halfen ihm, die letzten anderthalb Meter zu überwinden. Mike wurde wenig sanft auf dem Deck abgesetzt und auf eine Tür zugestoßen, hinter der eine eiserne Treppe steil in die Tiefe führte. Die wenigen Blicke, die er zuvor in die Runde hatte werfen können, bestätigten seinen ersten Eindruck: sie befanden sich auf einem großen, schon etwas betagten Frachter, der durchdringend nach Fisch stank und sichtbar schon bessere Zeiten erlebt hatte. Einige der Aufbauten waren unter Planen versteckt und hatten Formen, die nicht besonders friedlich aussahen, und die Worte, die sich die Matrosen zuwarfen, waren deutsch.

Sie wurden die Treppe hinunter und in einen Raum am Ende eines langen Korridors getrieben, wo Mike eine Überraschung erlebte: An einem kleinen Tisch in der Mitte des Raumes saßen Juan, André und Ben, und in einer Ecke hockte, in eine Decke eingerollt, zitternd und die Knie an den Körper gezogen, aber unverletzt, Chris.

Die Wiedersehensfreude hielt sich in Grenzen. Vor allem Juan beschränkte sich darauf, Mike die Hand zu schütteln und sich nach seinem Befinden zu erkundigen. Und er war auch der erste, der sein Mißtrauen ganz offen in Worte kleidete.

»Wo bist du die ganze Zeit über gewesen?« fragte er. »Uns haben sie alle zusammen hergebracht - schon vor ein paar Stunden übrigens.«

Mike überlegte kurz, dann entschloß er sich, die Wahrzeit zu sagen, und erzählte Juan und den anderen, wie es ihm ergangen war. Die Jungen staunten nicht schlecht, aber sie schenkten ihm offensichtlich Glauben. Schließlich hatte zumindest Juan die Taucher ebenfalls gesehen.

»Was zum Teufel ist mit diesen Papieren, daß sie so wichtig sind?« fragte Ben, nachdem Mike mit seinem Bericht zu Ende gekommen war. »Ist dir überhaupt klar, was Winterfeld als Deutscher mit unserer Entführung in dieser Zeit riskiert?«

»Jetzt ... übertreibst du aber«, sagte Mike stockend. Er fuhr sich nervös mit der Zungenspitze über die Lippen. So hatte er die Sache noch gar nicht gesehen.

»Kaum«, sagte Juan grimmig. Er deutete auf Ben. »Er hat völlig recht. Ich weiß ja, daß Politik dich nicht interessiert, aber im Moment gibt es derartige Spannungen zwischen Großbritannien und dem Deutschen Kaiserreich, daß diese Sache hier leicht ins Auge gehen kann!«

Jetzt verspürte Mike einen eisigen Schauer. Wenn Juan recht hatte, dann spielte Winterfeld nicht nur mit seinem und dem Leben der anderen, sondern mit der Existenz ganzer Völker. Aber warum nur?

»Findest du nicht, daß es an der Zeit ist, uns verschiedenes zu erklären?« sagte Juan plötzlich.

Mike sah ihn verwirrt an. »Was soll das heißen?«

»Versuch nicht, uns für dumm zu verkaufen!« antwortete Juan scharf. »Was will Winterfeld von dir, Mike? Immerhin wären wir fast ertrunken deinetwegen. Du könntest uns wenigstens verraten, warum.«

»Aber ich weiß es wirklich nicht!« sagte Mike.

»Das reicht jetzt!« fiel Miß McCrooder scharf ein. »Mike hat gesagt, daß er es nicht weiß, und ich glaube ihm. Warum sollte er uns etwas vormachen?«

Juan starrte trotzig zu ihr hoch und setzte zu einer Entgegnung an, aber in diesem Moment erhielten sie von unerwarteter Seite Schützenhilfe: Chris, der bis jetzt völlig reglos in seiner Ecke gesessen und scheinbar gar nicht mitbekommen hatte, worum es bei dem Streit überhaupt ging.

»Miß McCrooder hat recht!« sagte er heftig. »Laß Mike in Ruhe. Er kann nichts dafür. Um ein Haar wäre er selber ums Leben gekommen - das hast du selbst gesagt.«

Juan blinzelte. »So?« fragte er schließlich langgedehnt.

»Ja, so!« versetzte Chris zornig. »Außerdem kann uns gar nichts passieren. Spätestens in ein paar Stunden ist bestimmt die Polizei hier und holt uns raus.«

»Wie kommst du denn auf die Idee?« erkundigte sich Juan hämisch. »Die wissen doch nicht mal, daß wir hier sind!«

»Aber sie wissen, daß wir zur LEOPOLD unterwegs waren«, versetzte Chris mit einem Scharfsinn, den ihm niemand zugetraut hätte. »Wenn wir nicht zurückkommen, dann werden sie sich diesen Winterfeld schon vorknöpfen, da wette ich drauf!«

»Ich fürchte, diese Wette würdest du verlieren«, murmelte André.

Mike drehte sich überrascht zu ihm herum. Auf Miß McCrooders Gesicht erschien ein sorgenvoller Ausdruck. »Wie meinst du das?« fragte sie.

André antwortete mit gesenktem Blick und sehr leise: »Ich fürchte, niemand wird uns auf der LEOPOLD suchen. Oder auch nur in der Nähe. Weil niemand weiß, daß wir dorthin wollten.«

»Unsinn!« widersprach Mike. Er begann nervös mit dem kleinen Amulett zu spielen, das an einer Kette um seinen Hals hing. »McIntire hat -«

»McIntire«, unterbrach ihn André, nun mit fester Stimme, »gehört wahrscheinlich dazu.«

»Quatsch!« entfuhr es Mike. Ben lachte schrill, aber Juan, Chris und Miß McCrooder starrten den jungen Franzosen aus erschrocken aufgerissenen Augen an. »Wie kannst du das wissen?« fragte Miß McCrooder.

»Hört zu«, sagte André. »Ich habe mir nichts dabei gedacht, deshalb habe ich bisher nichts davon gesagt - aber heute morgen habe ich gehört, wie McIntire dem Fahrer erzählt hat, daß er mit uns eine Hafenrundfahrt machen will. Kein Wort von Winterfeld oder der LEOPOLD. Wenn er das allen erzählt hat, dann ... dann denken sie jetzt, es wäre ein ganz normaler Unfall gewesen. Niemand wird auch nur auf die Idee kommen, daß wir entführt worden sind.«

Ein erschrockenes, fast atemloses Schweigen breitete sich in der Kabine aus. Es war Juan, der dieses Schweigen schließlich brach.

»Wißt ihr, was das bedeutet?« fragte er. Niemand antwortete, und Juan fuhr mit leiser, zitternder Stimme fort: »Wenn Winterfeld dafür gesorgt hat, daß niemand weiß, was wirklich mit uns passiert ist, dann wird er auch dafür sorgen, daß das so bleibt. Er kann uns gar nicht wieder gehen lassen.« Er überlegte einen Moment. »Vielleicht besaß dein Vater irgend etwas, was für die Deutschen von großem Wert ist«, sagte er dann zu Mike zugewandt. »Immerhin könnte es sein, daß demnächst ein Krieg ausbricht.«

»Jetzt fang nicht schon wieder damit an!« beschwerte sich André.