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Es sei denn, flüsterte eine Stimme in seinen Gedanken, das, was er auf jener geheimnisvollen Karibikinsel zu finden hoffte, war noch viel, viel wertvoller, als sie alle bisher angenommen hatten.

Mitternacht kam und ging, und an Bord kehrte allmählich eine gewisse Ruhe ein. Sie hatten noch lange zusammengesessen und geredet, bis es schließlich Zeit zum Abendessen war und sich Ben, Juan und André in ihre eigene Kabine zurückzogen. Auch Miß McCrooder - die als einzige eine Kabine für sich allein hatte - war gegangen, wobei sie Chris mitgenommen und erklärt hatte, es mache ihr nichts aus, sich für diese Nacht das Zimmer mit ihm zu teilen; am nächsten Morgen würde man weitersehen und zur Not ein drittes Bett in Mikes Kajüte aufschlagen lassen. Daß sie in dieser Nacht nicht schlafen würden und allesamt hofften, daß es ohnehin ihr letzter Abend auf diesem Schiff war, wußte Paul nicht - und sie hüteten sich, auch nur eine Andeutung in dieser Richtung zu machen. Sie hatten die Zeit, in der Paul einmal zwischendurch die Toilette aufgesucht hatte, genutzt, um sich zu einigen, ihn in diesem Punkt im unklaren zu lassen. Wenn er tatsächlich im Auftrag seines Vaters hier war, um sie auszuspionieren, durfte er auf keinen Fall etwas von ihrem Vorhaben erfahren. Und wenn nicht - nun, dann schadete es nichts, wenn er erst in allerletzter Sekunde davon erfuhr. Mike hatte ein schlechtes Gewissen bei dieser Vorstellung, aber er beugte sich schließlich dem Willen der Mehrheit und tröstete sich damit, daß Paul ihre Vorsicht verstehen würde.

Sie waren übereingekommen, sich zwei Minuten vor der verabredeten Zeit in Mikes Kabine zu treffen, wobei Miß McCrooder der gefährlichste Teil des Planes zukommen würde - nämlich, die Wachen abzulenken, die sonst mißtrauisch werden konnten.

Nun ging es allmählich auf eins zu. Mike mußte sich beherrschen, um nicht immer öfter auf die Uhr zu sehen, während er mit Paul zusammensaß und redete. Er hatte gehofft, daß Paul irgendwann müde werden und einschlafen würde, aber das Gegenteil war der Fall - er wurde immer munterer und ließ sich von Mike über die Gespräche mit seinem Vater in allen Einzelheiten berichten.

»Weißt du«, sagte er dann, »irgendwie glaube ich, daß Vater recht hat mit seiner Vermutung, daß du den Schlüssel zu dem Geheimnis besitzt.«

Mike sah seinen Freund einen Augenblick lang durchdringend und verwirrt an, dann begriff er, daß Paul diesen Blick ebensogut als mißtrauisch deuten konnte, und zwang sich zu einem Lächeln. »Bestimmt nicht«, sagte er. »Ich hätte es ihm längst gesagt, wenn es so wäre. In einer Sache stimme ich ihm nämlich zu - ich bin sicher, daß er die Insel früher oder später sowieso findet, ob mit oder ohne meine Hilfe. Ich will nur noch hier raus und die anderen auch. Es interessiert mich mittlerweile gar nicht mehr, was er auf dieser Insel zu finden hofft.«

»Aber mich«, entgegnete Paul. »Und zwar brennend. Egal, was die anderen von meinem Vater halten: Er ist ein ehrlicher Mann. Wenn er sich zu so etwas hinreißen läßt, dann muß es sich um etwas wirklich Kolossales handeln.« Er legte den Kopf schräg und sah Mike aus eng zusammengekniffenen Augen an. »Überleg noch mal«, sagte er. »Dein Vater muß doch irgendeine Andeutung gemacht haben.«

»Ich habe ihn ja nicht mal gekannt«, erinnerte Mike. »Ich weiß nicht einmal genau, wie er ausgesehen hat. Aber ich weiß, daß er nichts mit Politik oder Krieg im Sinn gehabt hat. Er war ein Beamter, das ist alles.«

»Das mag schon sein«, wiederholte Paul. »Aber irgend etwas - hat er dir rein gar nichts hinterlassen? Keinen Brief, kein Andenken?«

»Doch«, antwortete Mike spitz. »Eine ganze Mappe mit Briefen sogar. Dein Vater hat sie.«

Paul fuhr bei diesen Worten zusammen. Ein Schatten huschte über sein Gesicht, und Mike kam sich gemein vor, daß er sich diesen billigen Triumph nicht hatte verkneifen können. Hastig zog er den Anhänger unter dem Hemd hervor, den er an einer Kette um den Hals trug. »Und das hier«, sagte er.

Paul beugte sich neugierig vor, nahm das Amulett in die Hand und betrachtete es sehr lange und sehr interessiert.

Mike ließ ihn gewähren. Auch er hatte den Anhänger in den letzten Wochen unzählige Male angesehen - schließlich war Pauls Überlegung nicht so weit hergeholt, daß nicht auch er und die anderen darauf gekommen wären, in diesem Amulett den Schlüssel zu vermuten, hinter dem Winterfeld her war.

Aber das konnte nicht sein. Das Amulett enthielt kein Geheimfach, keine verschlüsselte Botschaft, keine Schriftzeichen, nichts. Es war ein unglaublich kunstfertiges Stück Goldschmiedearbeit, das die sechsarmige Göttin Kali darstellte - ein durchaus gängiges Motiv der indischen Mythologie -, nicht mehr und nicht weniger.

Schließlich ließ Paul das Amulett wieder sinken und schüttelte den Kopf. »Wenn das Ding irgend etwas zu bedeuten hat«, sagte er enttäuscht, »dann ist diese Bedeutung wirklich gut getarnt.«

Mike verstaute das Amulett wieder unter seinem Hemd, aber er kam nicht mehr dazu, zu antworten. Draußen auf dem Gang erscholl plötzlich ein halblauter, krächzender Schrei, und eine Sekunde später polterte etwas schwer gegen die geschlossene Tür. Paul sah überrascht hoch, während Mike aufstand, zur Tür ging und mit klopfendem Herzen einen Schritt davor stehenblieb. Es war fünf Minuten vor eins.

»Was ist denn los?« fragte Paul flüsternd.

Bevor Mike antworten konnte, wurde die Tür aufgerissen - und er vermochte nur noch mit Mühe einen Schrei zu unterdrücken!

Einer der beiden Soldaten, die draußen auf dem Gang Wache hielten, taumelte ihm entgegen. Sein Hals und das Hemd waren blutüberströmt. Auf seinem Gesicht lag ein ungläubiger Ausdruck, und sein Mund war weit geöffnet, wie zu einem Schrei. Aber er bekam keinen Laut über die Lippen. Torkelnd näherte er sich Mike, streckte die Hände nach ihm aus und sank in die Knie, ehe er ihn erreichen konnte.

Mike machte einen erschrockenen Schritt zur Seite, als der Soldat zusammenbrach. Er schlug mit einem dumpfen Laut auf dem metallenen Boden auf und rührte sich nicht mehr. Unter seinem Gesicht begann sich rasch eine dunkle, glitzernde Lache zu bilden.

»Was zum Teufel geht hier vor?« keuchte Paul. Mike hörte, wie er von seinem Stuhl aufsprang, drehte sich aber nicht zu ihm herum. Der Blick seiner entsetzt aufgerissenen Augen war auf den zweiten, reglosen Körper draußen auf dem Gang gerichtet. Der Soldat lag auf dem Rücken, und auch sein Hals und das Hemd darunter waren rot. Jemand hatte ihm die Kehle durchgeschnitten.

Sein Mörder stand mit gespreizten Beinen über ihm. Er trug nicht mehr die Matrosenuniform, in der Mike ihn auch am Morgen gesehen hatte, sondern ein weites Gewand und einen kunstvoll gewickelten Turban, unter dem ein rabenschwarzer Pferdeschwanz bis weit über seine Schultern herabhing. In der rechten Hand hielt er den Dolch, mit dem er die beiden Wachen getötet hatte.

»Was -?« begann Mike, wurde aber sofort von dem Fremden unterbrochen.

»Still!« zischte er. »Zum Reden ist jetzt keine Zeit! Wir müssen weg! Wo sind die anderen?«

Mike deutete auf die gegenüberliegende Tür, und der Mann fuhr mit einer katzenhaften Bewegung herum und öffnete sie. Mike hörte einen überraschten Ausruf in dem Raum auf der anderen Seite, und der Mann antwortete wohl auch, aber er verstand die Worte nicht. Wie hypnotisiert starrte er abwechselnd die beiden Toten an. Er fühlte einen eisigen Schrecken, der alles überstieg, was er jemals empfunden hatte; selbst die Todesangst, als er damals im Hafen beinahe ertrunken wäre.

Es war das erste Mal, daß Mike so direkt mit dem Tod konfrontiert wurde. Er hatte tote Tiere gesehen und vom Tod von Menschen gehört und gelesen - aber er hatte sich noch nie einer Leiche gegenübergesehen. Die beiden Männer waren tot - sie waren ermordet worden, vor seinen Augen und wohl auch irgendwie seinetwegen. Zweifelsfrei waren diese beiden Soldaten seine Feinde gewesen, die vielleicht nicht einmal gezögert hätten, ihn und die anderen umzubringen, hätten sie den Befehl dazu erhalten, und doch erschütterte Mike ihr Anblick zutiefst. Der Fremde, der gekommen war, um ihn zu retten, hatte sie seinetwegen getötet. Ebensogut hätte er selbst ein Messer nehmen und ihnen die Kehle durchschneiden können.