Auf dem Gang wurde es wieder laut, als der Fremde in Begleitung Juans und der beiden anderen zurücckam. Einer der drei mußte ihm wohl den Weg zu Miß McCrooders Kabine gewiesen haben, denn er eilte unverzüglich hin und betrat auch sie, ohne anzuklopfen. Juan erstarrte mitten in der Bewegung, als er den toten Soldaten sah, und André schlug erschrocken die Hand vor den Mund. Ben blickte den Leichnam nur kurz an und wirkte zufrieden, wie Mike schaudernd registrierte.
Wenige Sekunden später erschienen auch Miß McCrooder und Chris auf dem Gang. Miß McCrooder sog erschrocken die Luft ein, zog Chris an sich und bedeckte seine Augen mit der Hand, während der Fremde sich wieder an Mike wandte.
»Schnell jetzt, Herr«, sagte er. »Wir müssen -« Er stockte mitten im Wort. Seine Augen wurden schmal, als er Paul erblickte, der hinter Mike unter der Tür erschienen war. Dann spannte sich seine Gestalt. Mike sah, wie sich seine Hand fester um den Dolch schloß, den er noch immer in der Rechten trug. »Wer ist das?« fragte er.
»Ein Freund«, sagte Mike hastig. »Er gehört zu uns.«
Der Fremde warf ihm einen mißtrauischen Blick zu. Mike sah, wie es in seinem dunklen Gesicht arbeitete. Dann nickte er. »Er kommt mit uns«, sagte er.
»Ich gehe nirgendwohin, ehe ich nicht weiß, was hier gespielt wird!« erwiderte Paul, und Ben sagte: »Er kommt auf keinen Fall mit! Da können wir ja genausogut Winterfeld selbst einladen, uns zu begleiten!«
»Aber er kann auch nicht hierbleiben«, fügte Juan ruhig hinzu. »Er würde uns verraten.«
Mike wies auf die Toten. »Warum ... haben Sie das getan?« fragte er leise.
»Es mußte sein, Herr«, antwortete der Fremde. »Sie hätten Alarm geschlagen. Wenn mein Eindringen bemerkt wird, sind wir alle verloren.« In drängenderem Ton fügte er hinzu: »Wir müssen gehen, Herr. Die Deckwache dreht gleich ihre Runde. Wenn sie das Boot bemerken, ist es um uns geschehen.«
»Ich rühre mich nicht von der Stelle!« sagte Paul. Er sprach sehr laut, aber seine Stimme zitterte auch hörbar. Das Entsetzen mußte ihm ebenso in die Knochen gefahren sein wie allen anderen.
»Dann werden wir dich wohl fesseln und knebeln müssen«, sagte Ben grinsend. »Ich übernehme das gern.« Er trat einen Schritt vor, aber der Fremde hielt ihn mit einer hastigen Bewegung zurück.
»Er weiß schon zuviel«, sagte er. »Er kommt mit oder stirbt.«
Mike zweifelte keine Sekunde daran, daß der Fremde seine Worte auch ausführen würde. »Bitte, Paul«, sagte er, »sei vernünftig. Er meint es ernst.«
Paul schien das wohl ebenso zu sehen, denn von seiner Entschlossenheit war nicht mehr viel geblieben. »Was ... was geht hier überhaupt vor?« sagte er stockend. »Wer ist das?«
»Wir ziehen aus, das geht vor, Schlaumeier«, sagte Ben fröhlich. »Mit oder ohne dich, das ist egal. Und wenn du dort oben auch nur einen Mucks von dir gibst, dann drehe ich dir höchstpersönlich den Hals um, das verspreche ich dir.«
»Schnell jetzt, Herr«, drängte der Fremde. »Sie dürfen das Boot nicht entdecken!«
Alles in Mike sträubte sich dagegen, über den Leichnam des Soldaten hinwegzusteigen, aber das mußte er, um die Treppe auf der anderen Seite des Ganges zu erreichen. Eng an die Wand gepreßt und mit geschlossenen Augen machte er einen Schritt über den reglosen Körper hinweg und dann noch zwei, drei weitere, hastige Schritte, um sich möglichst schnell von ihm zu entfernen. Plötzlich begann sein Herz zu hämmern, und er zitterte am ganzen Leib.
Angeführt von dem geheimnisvollen Fremden bewegten sie sich die Treppe hinauf. Mike und Paul gingen unmittelbar hinter ihm, dicht gefolgt von Miß McCrooder und Chris, während Juan Ben vorsichtshalber ans Ende der kleinen Kolonne verbannt hatte. Ihr Führer öffnete lautlos die Tür, gab ihnen ein Handzeichen zurückzubleiben, und huschte hindurch. Schon nach einer Sekunde kam er zurück und winkte. »Keinen Laut!« flüsterte er, während Mike und Paul sich an ihm vorbeischoben.
Es war dunkel, als sie an Deck hinaustraten - aber längst nicht so dunkel, wie Mike gehofft hatte. Die Nacht war sternenklar, und als hätten Winterfeld und seine Männer selbst die Natur auf ihrer Seite, stand auf dem Himmel ein fast vollkommen gerundeter Mond, der den Hafen wie ein übergroßer, bleicher Scheinwerfer beschien. Zudem brannten hinter den Fenstern der Brücke noch etliche Lichter, so daß jeder, der dort oben stand und zufällig herabsah, sie bemerken mußte.
Ihr Führer deutete auf den schwarzen Schlagschatten der erhöhten Frachtluke, einige Schritte entfernt. Mike zeigte ihm mit einem stummen Nicken, daß er verstanden hatte, sah noch einmal mit klopfendem Herzen zu den hellerleuchteten Fenstern der Brücke hinauf, sammelte all seinen Mut - und huschte los.
In wenig mehr als einer Sekunde gelangte Mike in den schwarzen Schatten des Lukenrandes, aber er war plötzlich felsenfest davon überzeugt, daß man ihn einfach entdecken mußte. Und wenn schon nicht das, so mußten seine Schritte, deren Dröhnen in seinen eigenen Ohren wie das Stampfen einer Elefantenherde klang, im ganzen Hafen zu hören sein.
Aber das Wunder geschah - sowohl er und Paul als auch alle anderen erreichten unbehelligt die Luke und kauerten sich in den Schutz des Schattens. Niemand rief ihnen zu, stehenzubleiben. Nirgends gellte eine Alarmsirene.
»Bleibt einen Moment hier«, flüsterte der Fremde, der als letzter geduckt über das Deck herangeeilt kam und sich neben Mike niederkauerte. »Ich sehe nach den Wachen.«
Mike wollte ihn zurückhalten, aber er verschwand so schnell wie ein Schatten, der schon nach einer Sekunde von der Nacht aufgesogen wurde. Mike hatte nie einen Menschen getroffen, der sich so geschmeidig und lautlos zu bewegen vermochte wie er.
»Wer ist das?« flüsterte Paul neben ihm.
»Ich habe keine Ahnung«, murmelte Mike.
»So, du hast keine Ahnung? Und wieso hat er dich dann Herr genannt?«
Mike schwieg. Er hätte eine Menge darum gegeben, die Antwort auf diese Frage zu kennen. Er spürte, daß sein Schweigen Pauls Mißtrauen nur noch schüren mußte.
Es vergingen nur Sekunden, bis der Fremde zurücckam. »Die Wache ist auf der anderen Seite«, flüsterte er. »Wir haben Glück.« Er deutete nach rechts. »Mein Boot liegt dort unten. Lauft zur Reling. Einzeln und nacheinander. Ich passe hier auf.«
Da Juan der entsprechenden Bordseite am nächsten war, huschte er als erster los. Nach wenigen Schritten erreichte er die Reling, beugte sich hinüber - und kletterte ohne zu zögern auf der anderen Seite in die Tiefe. Erst als ihm auch Ben auf die gleiche Weise folgte, erkannte Mike die Strickleiter, die an der Reling verknotet war. Geduckt lief er los, erreichte die Reling und schwang das Bein darüber.
In diesem Moment erscholl in der Dunkelheit hinter ihm ein lautstarkes Scheppern und Klirren. Irgend etwas fiel mit einem gehörigen Krach um, der nun wirklich bis zum Ufer zu hören sein mußte. Mike erstarrte mitten in der Bewegung.
Fast in der gleichen Sekunde erschien neben der Brücke eine Gestalt. »Wer ist da?« rief eine Stimme. Dann wurde sie schrill. »He - du da an der Reling! Rühr dich nicht! Keine Bewegung!«
Mikes Herz schlug bis in seinen Hals hinauf, als der Wachtposten die Arme in die Höhe riß und ein Gewehr auf ihn anlegte. Er hörte das Klicken der Sicherung, die herumgelegt wurde. Er würde sterben. Jetzt. Doch der Schuß, auf den er wartete, kam nicht. Statt dessen sah er aus den Augenwinkeln, wie hinter der Ladeluke plötzlich eine zweite, schlanke Gestalt in die Höhe wuchs und eine blitzartige Bewegung mit dem Arm machte. Der Posten schien die Gefahr im letzten Moment zu spüren, denn er fuhr herum und versuchte, mit seinem Gewehr auf die Gestalt zu zielen, aber er war nicht schnell genug. Etwas flog wie ein silberner, sich irrsinnig schnell drehender Blitz durch die Luft, bohrte sich mit einem dumpfen Schlag in seine Brust und schmetterte ihn gegen die Decksaufbauten. Der Mann schrie auf, ließ sein Gewehr fallen und brach zusammen.