Paul und die anderen sprangen hinter ihrer Deckung hervor und rannten zur Reling, ohne auch noch die geringste Vorsicht zu wahren. Mike kletterte so hastig weiter hinunter, daß er ein paarmal Gefahr lief, den Halt zu verlieren und abzustürzen.
Was ihr geheimnisvoller Retter als Boot bezeichnet hatte, das entpuppte sich als Segeljacht, als Mike die Strickleiter losließ und die letzten anderthalb Meter einfach in die Tiefe sprang. Er verlor auf den rutschigen Planken das Gleichgewicht, fiel auf die Knie und kroch hastig ein Stück zur Seite, damit ihm André nicht in den Nacken sprang - was zweifellos geschehen wäre, denn hinter diesem drängten bereits Chris und Miß McCrooder heran.
Doch auch ihre Verfolger hatten nicht aufgegeben. Als die Gestalt ihres Retters über der Reling erschien, erscholl oben an Deck ein zorniger Schrei; gleich darauf gellte das Schrillen einer Alarmpfeife durch die Nacht, und dann krachte ein Schuß. Keine zehn Zentimeter neben dem Fremden stoben Funken aus dem Metall der Reling, und die Kugel jaulte als Querschläger davon.
Der Fremde schwang sich mit einer kraftvollen Bewegung über die Reling - und sprang in die Tiefe, ohne zu zögern!
Mike schrie erschrocken auf. Das Deck des größeren Schiffes lag gute fünf Meter über ihnen, vielleicht sogar mehr. Aber wieder bewies ihr geheimnisvoller Freund seine außerordentliche Geschicklichkeit. Er prallte dicht neben ihm auf, kam mit einer eleganten Rolle wieder auf die Füße und fuhr noch in der gleichen Bewegung herum. Mit beiden Armen versuchte er, die kleine Jacht vom Rumpf des Frachters wegzustoßen. Das Schiff zitterte, bewegte sich aber nicht.
»Helft mir!« sagte er. »Schnell!«
Mit vereinten Kräften gelang es ihnen, das Schiff abzustoßen - doch in diesem Moment erschienen bereits die Schatten der Verfolger an der Reling über ihnen. Irgend jemand schrie eine Warnung, und da krachte auch schon wieder ein Schuß.
Mike zog den Kopf ein und warf sich herum. Die Kugel klatschte neben dem Schiff ins Wasser, aber schon krachte der nächste Schuß, und dann wieder einer und wieder einer. Die Kugeln ließen das Wasser aufspritzen, aber einige Geschosse fetzten auch Splitter aus den Decksplanken oder zerschmetterten Glas. Während Mike mit Riesensätzen und im Zickzack über das Deck sprang und verzweifelt nach irgendeiner Deckung Ausschau hielt, sah er aus den Augenwinkeln, wie sich zwei Matrosen hintereinander auf die Strickleiter schwangen, über die sie selbst geflohen waren, um in die Tiefe zu klettern.
Die Jacht drehte sich scheinbar schwerfällig von dem größeren Schiff weg, nahm aber nun sichtbar Fahrt auf, und die Distanz zwischen den beiden Schiffen wuchs rasch. Die Soldaten schossen jetzt ununterbrochen, und die Kugeln sirrten so dicht um Mikes Ohren und die der anderen, daß sie das Gefühl hatten, mitten in einen zornigen Hornissenschwarm hineingeraten zu sein, doch niemand wurde getroffen.
Schließlich hörte das Gewehrfeuer auf. Mike, der sich wie alle anderen angstvoll an Deck zusammengekauert hatte, saß noch einige Sekunden mit eingezogenem Kopf da, ehe er es auch nur wagte, die Augen zu öffnen und wieder zu dem Frachter hinüberzublicken.
Er war überrascht, wie groß der Abstand in den wenigen Augenblicken geworden war, die seit ihrer Flucht vergangen waren. Das Schiff war sicherlich schon fünfzig Meter entfernt, und die Distanz wuchs mit jeder Sekunde. Mike hörte ein schweres, flappendes Geräusch, sah hoch und gewahrte ein riesiges, geblähtes Segel, das sich plötzlich über ihren Köpfen spannte. Er konnte hören, wie der Schiffsrumpf unter den Kräften ächzte, die plötzlich auf ihn einwirkten. Das Schiff war nicht nur viel größer, als er bisher angenommen hatte, sondern auch sehr schnell. Plötzlich wußte er, daß sie in Sicherheit waren. Selbst wenn der Frachter mit seinen schweren Motoren schneller sein sollte als dieses Schiff - er würde eine halbe Stunde oder mehr brauchen, um überhaupt Fahrt aufzunehmen, und bis dahin waren sie längst in der Nacht verschwunden.
Langsam stand er auf, atmete ein paarmal tief und langsam ein und aus und versuchte sich dann einen Überblick zu verschaffen. In den Planken gähnten Dutzende von großen, schwarz geränderten Löchern, wo die Gewehrkugeln eingeschlagen hatten. Zwei Fenster des flachen Ruderhauses waren zerbrochen, die Reling auf der linken Seite an gleich drei Stellen zerschmettert, und bei genauem Hinsehen glaubte Mike auch in den großen Segeln etliche Einschußlöcher zu erkennen - aber wie durch ein Wunder schien keiner von ihnen auch nur einen Kratzer abbekommen zu haben.
»Seid Ihr unverletzt, Herr?«
Mike drehte sich herum und sah sich ihrem Retter gegenüber. Zum ersten Mal hatte er jetzt Gelegenheit, das dunkle, beinahe edel geschnittene Gesicht des Fremden in Ruhe zu betrachten. Was er vorhin schon vermutet hatte, wurde nun zur Gewißheit - der Mann war kein Europäer, sondern Inder wie er selbst. Seine Haut war sehr viel dunkler als die Mikes und Augen und Haar tief schwarz.
»Mir ist nichts passiert«, antwortete Mike. »Und den anderen auch nicht. Aber es war verdammt knapp.«
»Die Götter waren auf unserer Seite«, bestätigte der Fremde.
»Ja - und die Deutschen sind noch miserablere Schützen, als man sich erzählt«, sagte Bens Stimme hinter Mike.
»Wer sind Sie?« fragte Mike. »Warum haben Sie uns geholfen? Sie hätten selbst dabei draufgehen können!«
»Und wir auch«, sagte Ben.
»Mein Name ist Ghunda Singh, Herr«, sagte der Fremde. Er legte die Handflächen vor dem Gesicht aneinander, berührte mit den Fingerspitzen seine Stirn und verbeugte sich fast bis zu den Schuhspitzen: »Es ist meine Aufgabe, für Eure Sicherheit zu sorgen. Bitte verzeiht mir, daß ich Euch nicht eher zu Hilfe eilen konnte. Aber es war unmöglich, sich dem Schiff auf hoher See zu nähern. Die Soldaten waren sehr wachsam.«
»Ihre ... Aufgabe?« wiederholte Mike perplex. »Aber wieso? Ich ... ich meine ... ich kenne Sie ja nicht einmal.«
»Dafür kenne ich Euch um so besser, Herr«, antwortete Singh mit einem geheimnisvollen Lächeln. »Während der letzten sechs Jahre habe ich über Euch gewacht, so gut ich konnte.«
»Das haben wir gemerkt«, spöttelte Ben. »Vor allem in London, als wir um ein Haar umgebracht worden wären.«
»Halt endlich die Klappe, Ben!« sagte Mike zornig und ohne den Blick von Singh zu wenden. »Der Mann am Hafen? Der waren Sie, nicht wahr?«
Singhs Gesicht verdüsterte sich. »Ja, Herr«, sagte er. »Bitte verzeiht mir. Ich versuchte Euch zu warnen, aber ich hatte unsere Feinde unterschätzt. Sie stellten mir eine Falle. Ich konnte ihnen entkommen, aber da wart Ihr und Eure Freunde bereits an Bord dieses Schiffes gebracht worden. Wenn Ihr mich dafür bestrafen wollt, werde ich die Strafe mit Freuden entgegennehmen.«
»Bestrafen?« wiederholte Mike verwirrt. »Wie kommen Sie auf die Idee? Sie haben uns gerade das Leben gerettet, oder?«
Singh verbeugte sich abermals auf jene sonderbare Weise. »Die Götter waren mir gnädig«, sagte er.
Mike seufzte. »Meinetwegen«, sagte er. »Dann waren es eben die Götter. Aber tun Sie mir einen großen Gefallen, Singh?«
»Euer Wunsch ist mir Befehl, Herr«, antwortete Singh.
»Gut«, sagte Mike. »Dann hören Sie um Himmels willen auf, mich Herr zu nennen.«
Auch in dieser Nacht fand Mike kaum Schlaf, obwohl Singh ihm eine Kajüte ganz für sich allein zugewiesen hatte. Es war nicht die Aufregung über ihre abenteuerliche Flucht, die ihn sich bis in die frühen Morgenstunden hinein auf dem Bett herumwälzen ließ, sondern die Erinnerung an den Tod der beiden Soldaten, für den er sich immer noch die Schuld gab. Und die absurde Furcht, daß die Welt, die er bei seinem Aufwachen vorfinden würde, wieder nicht mehr dieselbe war wie am Abend.