Noch vor wenig mehr als einem Monat war er nichts anderes als ein ganz normaler Schüler unter zweihundert anderen gewesen, und nun befand er sich am anderen Ende der Welt, war aus wochenlanger Gefangenschaft geflohen, man hatte auf ihn und seine Freunde geschossen, und er hatte erfahren, daß er seit sechs Jahren einen Schutzengel besaß, der unbemerkt über ihn gewacht hatte. Und um das Maß voll zu machen, wußte er immer noch nicht, warum all dies überhaupt geschehen war!
Er drehte sich auf der schmalen Koje herum und gönnte sich noch einige Sekunden, in denen er in dem grauen Zwielicht zwischen Schlaf und Wachsein dahindämmerte. Aber dann spürte er, daß er wieder einzuschlafen drohte, und im gleichen Moment erinnerte er sich an einen Traum, den er in dieser Nacht gehabt hatte; einen Traum, in dem zwei tote Männer an sein Bett getreten waren und vorwurfsvoll auf ihn herabgeblickt hatten. Ihre Kehlen waren durchschnitten gewesen, so daß in ihren Hälsen große, blutige Wunden wie zusätzliche Münder mit leuchtendroten Lippen klafften, sie hatten immer wieder auf ihn gedeutet, und schließlich hatte er an sich herabgesehen und erkannt, daß er einen Dolch in der Hand hielt, an dessen Klinge frisches Blut klebte.
An dieser Stelle war zwar der Traum nicht abgebrochen, aber dumpfe, polternde Geräusche und Stimmengewirr drangen in sein Bewußtsein und ließen ihn gänzlich wach werden. Das war ihm nur recht, denn er hatte Angst davor, wieder einzuschlafen. Er fragte sich, ob er jemals wieder würde schlafen können, ohne die Gesichter der beiden Männer zu sehen. Mike setzte sich auf, gähnte hinter vorgehaltener Hand und rieb sich die Augen. Er hörte jetzt Bens Stimme aus dem Durcheinander heraus, dann die Juans und die Miß McCrooders. Sie alle klangen sehr aufgeregt. Für einen Moment war Mike ernsthaft versucht, sich wieder hinzulegen. Er war es einfach leid, sich zu streiten, zu diskutieren oder auch einfach nur irgendeine Entscheidung zu treffen. Für eine Sekunde wünschte er sich nichts mehr, als die Augen aufzuschlagen und festzustellen, daß alles nichts als ein Traum gewesen war.
Der Streit in der benachbarten Kabine wurde lauter. Widerstrebend schwang Mike die Beine von der Liege und stand auf.
Prompt stieß er sich den Kopf an der niedrigen Decke. Mike rieb sich den schmerzenden Schädel. Das Privileg, als einziger eine Kabine für sich allein zu haben, hatte er mit dem Nachteil bezahlen müssen, daß es der kleinste Raum an Bord war und auch der niedrigste.
Lautlos vor sich hin fluchend, öffnete er die Tür, trat auf den Gang hinaus und nur einen Augenblick später in das, was Singh am vergangenen Abend in einem Anfall von Größenwahn als Messe bezeichnet hatte.
Er platzte mitten in eine Rauferei hinein. Ben und Paul waren aufeinander losgegangen.
Wie nicht anders zu erwarten gewesen war, hatte Paul bei dem ungleichen Kampf den kürzeren gezogen. Er lag auf dem Rücken, mitten in den Trümmern eines Stuhles, den er bei seinem Sturz offensichtlich zerbrochen hatte, und der einzige Grund, aus dem Ben sich nicht wieder auf ihn stürzte, war wohl Juan, der ihn am Arm gepackt hatte und ihn zurückhielt. Aber Ben war so aufgebracht, daß er sich neuerlich auf ihn stürzen wollte, da trat Miß McCrooder dazu. »Hört sofort auf«, sagte sie scharf. »Gewalt und Streit bringen uns nicht weiter.« Mike ahnte den Grund der Auseinandersetzung.
»Was war hier los?« fragte er.
»Ben wollte, daß Paul aus dem Zimmer geht, wenn wir miteinander reden«, antwortete Juan.
»Was soll denn der Unsinn?« fragte Mike. »Stimmt das?«
»Es ist kein Unsinn!« antwortete Ben gereizt. Er fuhr sich mit dem Handrücken über das Gesicht, um das Blut wegzuwischen, das aus seiner Nase lief. »Ich bleibe nicht in einem Raum mit diesem Spion.«
»Ich dachte, das Thema wäre bereits erledigt«, sagte Mike.
Ben schnaubte. »Und? Ich traue dem Kerl keinen Schritt über den Weg! Hat er uns gestern abend nicht beinahe ans Messer geliefert?«
»Wie kommst du auf die Idee?« fragte Mike.
Ben zog eine Grimasse, dann deutete er auf Paul. »Dann frag ihn doch einmal, wer gestern abend einen solchen Krach gemacht hat, daß die Wachen auf uns aufmerksam geworden sind!«
»Ich war es jedenfalls nicht!« sagte Paul aufgebracht, der sich in der Zwischenzeit vom Boden erhoben hatte.
»Aber das ist doch Unsinn«, widersprach Mike. »Überleg doch mal! Sie haben auf uns geschossen! Genausogut hätten sie auch Paul treffen können.«
»Haben sie aber nicht!« gab Ben ungerührt zurück. »Sie haben überhaupt niemanden getroffen. Ein Dutzend gut ausgebildeter Soldaten schießt aus allen Rohren auf uns, und keiner kriegt auch nur eine Schramme ab - findet ihr das nicht auch komisch? Seht euch mal das Deck draußen an. Es sieht aus wie ein Schweizer Käse! Sie müssen ein paar hundert Schuß abgefeuert haben!«
»Vielleicht sind sie miserable Schützen«, sagte Mike. Aber die Worte klangen selbst in seinen eigenen Ohren nicht ganz so überzeugend, wie er es gerne gehabt hätte.
»Oder ganz ausgezeichnete«, antwortete Ben.
Mike blinzelte. »Wie meinst du das?«
»Vielleicht haben sie ja absichtlich danebengeschossen«, knurrte Ben. »Wer weiß - vielleicht sollten wir ja entkommen.«
»Also, das ist nun wirklich Quatsch«, sagte Juan. »Warum sollte Winterfeld uns entkommen lassen - nach aller Mühe, die er sich gemacht hat, uns gefangenzunehmen?«
»Damit wir ihn freiwillig an den Ort führen, den er mit Gewalt nicht von Mike erfahren hat«, sagte Ben. »Solange jemand bei uns ist, der uns auf Schritt und Tritt beobachtet, kann er uns getrost an der langen Leine laufen lassen, nicht wahr?«
»Allmählich reicht es mir«, grollte Paul. Mike hob beruhigend die Hand, aber Paul schob ihn einfach zur Seite, ballte die Fäuste und baute sich herausfordernd vor dem größeren Jungen auf. »Wenn du das wirklich glaubst, dann komm mit mir an Deck, und wir bringen die Sache hinter uns.«
Bens Augen glitzerten tückisch. »Gern«, sagte er. »Kommst du allein, oder bringst du deinen Aufpasser mit?« Er deutete auf Mike. »Ich nehm's auch mit euch beiden auf, wenn es sein muß.«
Plötzlich lag eine Stimmung von Gewalttätigkeit in der Luft, die Mike fast anfassen zu können glaubte.
»Jetzt ist es endgültig genug!« mischte sich Miß McCrooder energisch ein. »Wir wollen lieber überlegen, was wir als nächstes tun.«
»Wir fahren nach Hause, denke ich«, antwortete Juan schnell. Auch er war froh, daß jemand von dem Streit ablenkte.
»Das dachte ich bis vorhin auch«, sagte Miß McCrooder. »War einer von euch heute morgen schon an Deck?«
Ein allgemeines Kopfschütteln antwortete ihr. »Das dachte ich mir. Ich verstehe nicht viel von Nautik, wißt ihr, aber die Himmelsrichtungen kann ich zur Not noch erkennen. Und wenn mich nicht alles täuscht, dann fahren wir auf nordöstlichem Kurs.« Aus dem ernsten Ausdruck auf ihrem Gesicht wurde Sorge.
»Und?« fragte André.
»Nordöstlicher Kurs, von Rio de Janeiro aus«, erklärte Mike, »bedeutet Kurs aufs offene Meer - nicht wahr?«
Die beiden letzten Worte galten Miß McCrooder, die nur stumm nickte.
»Aber das ist doch Unsinn!« protestierte Juan. »Dieses Schiff ist viel zu klein, um den Atlantik zu überqueren. Wenn Singh vorhat, damit nach England zurückzusegeln, muß er verrückt sein!«
»Ich fürchte, das hat er nicht vor«, sagte Miß McCrooder. »Ich habe ihn gefragt, wohin wir segeln, aber er hat mir nicht geantwortet.«
»Das war mir leider nicht möglich, Mylady«, sagte Singh von der Tür aus. »Es war mir nicht erlaubt, einem anderen als meinem Herrn das Ziel unserer Reise mitzuteilen.«
Miß McCrooder und die Jungen fuhren erschrocken zusammen. Sie hatten gar nicht gemerkt, daß der Inder die Messe betreten hatte. Es war Miß McCrooder anzusehen, wie peinlich es ihr war, daß der Inder ihre Worte gehört hatte - und auch das verstanden haben mußte, was sie nicht ausgesprochen hatte.