»Na, dann erlaube ich es Ihnen jetzt«, sagte Mike, um das unangenehme Schweigen zu brechen. »Wohin segeln wir? Sie haben doch nicht vor, in dieser Nußschale den Atlantik zu überqueren?«
Singh lächelte geheimnisvoll. »Nein, Herr«, sagte er. »Obwohl es durchaus möglich wäre. So eine Reise ist schon von kleineren Schiffen bewältigt worden. Doch unser Ziel liegt auf dieser Seite des Ozeans.«
»Dann könnten Sie ja so freundlich sein, es uns zu verraten«, grollte Ben. »Es sei denn, Sie haben uns nur befreit, um uns zu einer kleinen Kreuzfahrt einzuladen.«
Singh zögerte. Er lächelte noch immer, aber Mike erkannte auch deutlich die Unentschlossenheit, die sich hinter diesem Lächeln verbarg. »Ich ... fürchte, das darf ich nicht«, sagte er schließlich. »Das Ziel unserer Reise ist geheim.«
»He, he!« protestierte Mike. »Ich habe Ihnen schon gesagt, daß Sie reden dürfen. Ich habe keine Geheimnisse vor meinen Freunden.«
Singhs Gesichtsausdruck sah plötzlich gequält aus. »Verzeiht mir, Herr«, sagte er. »Aber ich fürchte, ich kann Eurem Befehl nicht gehorchen. Die Anweisungen, die Euer Vater für mich hinterließ, sind eindeutig.«
Mike mußte sich beherrschen, um nicht herauszuplatzen. »Nun hören Sie endlich mit dem blödsinnigen Herr auf!« sagte er. »Mein Name ist Mike Kamala -«
»Nein, Herr«, unterbrach ihn Singh sanft, »das ist er nicht.«
Mike blinzelte. »Nicht?«
Singh schüttelte den Kopf. »Unter diesem Namen seid Ihr in England aufgewachsen, doch er ist falsch. Euer Vater wählte ihn, um Euch zu schützen, denn er fürchtete, daß seine Feinde Euch als Druckmittel benutzen würden, wüßten sie von Eurer wahren Identität. Nicht zu Unrecht, wie sich gezeigt hat. Euer wirklicher Name ist Dakkar. Ihr seid Prinz Dakkar.«
Mike sah aus den Augenwinkeln, wie Paul zusammenfuhr und sein Gesicht jede Farbe verlor, Ben und André rissen verblüfft die Augen auf, während Juan nach einer ersten Sekunde der Überraschung auf eine sonderbare Weise zu lächeln begann und Chris ihn mit offenem Mund und unübersehbarer Ehrfurcht anstarrte.
»Prinz Dakkar?« wiederholte Mike ungläubig.
Singh legte wieder die Hände aneinander und verbeugte sich auf die gleiche Weise wie am Abend zuvor. »Wie Euer Vater vor Euch und dessen Vater vor ihm«, antwortete er. »Und Euer Sohn, solltet Ihr Kinder zeugen und die Linie fortsetzen.«
»Und Sie sind -«
»Euer Diener und Leibwächter«, sagte Singh. »Wie mein Vater der Leibwächter Eures Vaters war und mein Großvater der des Ihren.« Er lächelte flüchtig. »Wie Ihr bin auch ich der letzte meines Geschlechtes.«
»Na, dann haben wir ja wenigstens etwas gemein«, murmelte Mike. Er fühlte sich noch immer wie vor den Kopf geschlagen. Prinz? Er sollte ein leibhaftiger Prinz sein? Das war unfaßbar - aber auch ziemlich aufregend. Plötzlich fühlte er ein fast ehrfürchtiges Schaudern.
»Ihr ehrt mich, Herr«, sagte Singh, »doch wir haben nichts gemein. Ihr seid der Sohn eines Radschahs, der den Göttern näher steht als den Menschen, während ich nur ein unbedeutender Krieger aus der Kaste der Sikhs bin. Mein Leben zählt nichts, wenn Ihr es befehlt.«
»Dann habe ich gleich den ersten Befehl für dich«, sagte Mike. »Nämlich, daß du in Zukunft keine Befehle mehr von mir annehmen wirst. Du kannst meinetwegen weiter meinen Leibwächter spielen oder unseren Kapitän und Steuermann, aber ich will nicht, daß du dich benimmst, als würdest du mir gehören.«
Singh nickte demütig. Er widersprach nicht, aber Mike spürte auch so, daß er sich diesem Befehl nicht so einfach beugen würde.
»Also gut«, fuhr Mike fort. »Und jetzt kannst du uns endlich verraten, wohin wir fahren.«
Singh seufzte. »Es tut mir leid, Herr«, sagte er. »Doch ich fürchte, daß ich das nicht kann. Auch ich kenne das Ziel unserer Reise nicht genau. Mein Auftrag war, bis zu Eurem einundzwanzigsten Geburtstag über Euch zu wachen und Euch dann zur Seite zu stehen, um die Vergessene Insel zu finden.«
»Die Vergessene Insel?«
»Der Name, den Euer Vater für dieses Eiland wählte«, erklärte Singh. »Sie ist auf keiner Seekarte verzeichnet. Niemand weiß von ihrer Existenz. Auch ich weiß nur ungefähr, wo sie zu suchen ist. Das Seegebiet, das Euer Vater mir nannte, ist groß genug, um ein Leben lang darin nach ihr suchen zu können. Und es heißt, daß ein Zauber sie beschützt. Die Göttin Kali selbst wacht über das Erbe, das Euer Vater Euch hinterließ.«
Mike gab sich Mühe, sich seine Enttäuschung nicht allzu deutlich anmerken zu lassen. »Aber welchen Sinn soll dieses Erbe haben, wenn niemand weiß, wo es zu finden ist?« beschwerte er sich.
Singh machte eine enttäuschte Handbewegung. »Der Weg war in den Papieren beschrieben, die Euer Vater für Euch hinterlegt hat«, sagte er. »Ohne sie, fürchte ich, wird es uns kaum möglich sein, die Vergessene Insel zu finden.«
»Ja, und die Papiere hat Winterfeld«, sagte Juan. »Also lange Rede, kurzer Sinn - wir können genausogut aufgeben. Du hast es selbst gesagt - wir können ein Leben lang nach dieser Insel suchen, ohne sie zu finden. Also ist es nur vernünftig, wenn du uns im nächsten Hafen an Land setzt.«
»Ich fürchte, das wird nicht gehen«, antwortete Singh in einem Tonfall echten Bedauerns, der aber zugleich auch keinen Widerspruch zuließ. Er deutete auf Paul. »Sein Vater besitzt die Papiere meines Herrn. Die Gefahr, daß er sie entschlüsselt und die Position des Eilandes herausfindet, ist zu groß. Das Geheimnis der Vergessenen Insel darf auf keinen Fall in die falschen Hände geraten.«
»Was ist auf dieser Insel verborgen?« fragte Mike. »Weißt du es?«
Singh nickte.
»Aber du wirst es uns nicht sagen«, fuhr Mike fort, als er begriff, daß der Sikh von sich aus nicht weiterreden würde.
»Das darf ich nicht«, antwortete Singh.
»Auch nicht, wenn ich es dir befehle?« frage Mike.
»Auch dann nicht«, antwortete Singh. »Es tut mir leid. Bitte verzeiht mir.«
»Was zum Teufel ist denn das für ein merkwürdiges Geheimnis?« begehrte André auf. »Du tust ja so, als stünde das Schicksal der ganzen Welt auf dem Spiel.«
»Vielleicht ist das auch so«, antwortete Singh mit großem Ernst.
Mike schauderte. Und er war ganz offensichtlich nicht der einzige, den Singhs Worte mit einem Gefühl eisigen Fröstelns erfüllten. Auch die anderen blickten den Inder überrascht, aber auch entsetzt an.
In Singhs Worten war etwas gewesen, was sie zu einer düsteren Prophezeiung hatte werden lassen.
Und ganz plötzlich hatte Mike Angst.
Singh stand im Heck des Schiffes, hatte ein Fernrohr an das rechte Auge gehoben und blickte konzentriert nach Süden. Es war nicht das erste Mal an diesem Abend, daß er das tat, und es war auch nicht das erste Mal, daß Mike ihn dabei beobachtete und sich fragte, wonach der Sikh eigentlich suchte. Während der letzten drei Tage hatte Mike ihn sehr oft so dastehen sehen.
Mike beschattete die Augen mit der Hand und blinzelte angestrengt in die gleiche Richtung, ohne allerdings mehr als Wolken und das monotone Silberblau des Ozeans zu erkennen. Sie fuhren jetzt seit drei Tagen nach Norden, wobei sie die meiste Zeit vor dem Wind kreuzten, manchmal aber auch den kleinen Hilfsmotor der Jacht benutzt hatten, und er hatte in diesen drei Tagen nicht viel mehr als eben dies erblickt; vom gelegentlichen Schemen einer Insel oder der dünnen Linie der Küste, der sie sich ein paarmal genähert hatten, abgesehen. Während der ersten beiden Tage hatte Mike den Anblick genossen. Er war ihm gewaltig vorgekommen, ehrfurchtgebietend und manchmal - wie jetzt, wenn die Dämmerung hereinzubrechen und die Sonne das Meer mit flüssigem Gold und Rot zu überschütten begann - auch ein bißchen romantisch. Aber all diese Gefühle hatten eines gemeinsam: sie nutzten sich rasch ab. Mittlerweile ging ihm die Monotonie des Meeres gehörig auf die Nerven. Singhs Schweigen übrigens auch. Der Sikh redete nur, wenn er angesprochen wurde, und er antwortete auch dann nur mit knappen Worten.