»Immer noch damit beschäftigt, Trübsal zu blasen?« erkundigte sich Paul. Er grinste. Es wirkte nicht ganz echt, und es diente genau wie sein lockerer Ton nur dazu, Mike aufzuheitern. Leider funktionierte es nicht.
»Wie kommst du darauf?« knurrte Mike und stand so heftig auf, daß sein Stuhl scharrend über den Boden fuhr und beinahe umgekippt wäre. »Ich platze gleich vor Freude. Kannst du dir etwas Schöneres vorstelen, als Weihnachten hier zu verbringen und Silvester mit einem Glas Erdbeersaft mit Mclntire anzustoßen?«
»Du bist ja nicht ganz allein«, sagte Paul.
Was für ein Trost, dachte Mike sarkastisch. Tatsächlich waren sie in diesem Jahr zu fünft, was die Zahl der Schüler anging, die aus dem einen oder anderen Grund nicht nach Hause konnten und die Ferien hier verbrachten. Mike hätte allerdings auf die Ehre, dazu zu gehören, liebend gern verzichtet. Er ersparte sich deshalb jede Antwort.
Paul ging zu seinem Bett und nahm den Koffer auf, der schon seit dem gestrigen Abend fertig gepackt dort stand. Der Anblick gab Mike einen neuerlichen Stich. Natürlich hatte er gewußt, daß Paul heute abreiste - aber es jetzt zu sehen gab ihm für eine Sekunde das absurde Gefühl, von seinem Freund im Stich gelassen zu werden.
»Ist dein Vater schon da?« fragte er.
Paul nickte. »Schon seit einer ganzen Weile. Er spricht noch mit Mclntire.« Paul war kein besonders guter Schüler. Er machte auch gar kein Hehl daraus, daß er nicht viel von Schule und Lernen hielt, und wahrscheinlich war der einzige Grund, aus dem er noch immer hier war, der, daß sein Vater ein sehr einflußreicher Mann war. Nebenbei auch ziemlich vermögend - aber das waren die Eltern der allermeisten Kinder hier.
Paul sah ihn noch einen Moment lang mitleidig an, daß Mike schon wieder in Zorn geriet, dann zuckte er mit den Schultern, drehte sich um und ging unter dem Gewicht seines Koffers etwas schief zur Tür. Dort wandte er sich noch einmal an Mike: »Willst du nicht wenigstens mitkommen und hallo sagen? Mein Vater würde sich bestimmt freuen.«
Mike wollte im ersten Moment ablehnen, weil er einen tiefen Groll auf die ganze Welt verspürte. Aber dann begegnete er Pauls Blick, und was er darin las, machte ihm klar, daß er seinen Freund damit verletzt hätte.
Außerdem mochte er Hieronymus Winterfeld. Pauls Vater war Kapitän der Kaiserlich Deutschen Kriegsmarine, der nicht das erste Mal einen Aufenthalt seines Schiffes vor der englischen Küste dazu nutzte, einen Abstecher nach Andara-House zu machen und seinen Sohn zu besuchen. Kapitän Winterfeld erfreute sich nicht nur bei Mike, sondern auch bei allen anderen Schülern des Internats großer Beliebtheit. Zwar entsprach er äußerlich durchaus dem Bild eines steifen deutschen Marineoffiziers: er war groß, von imposanter Statur, hielt sich stets gerade in seiner dunkelblauen Marineuniform, an deren Brust viele Medaillen und Ordensspangen befestigt waren, und hatte einen stets forschen Gang. Ganz im Gegensatz zu diesem ehrfurchtgebietenden Äußeren jedoch stand sein Verhalten. Er war nicht nur sehr freundlich, sondern auch ein überaus lustiger und redseliger Mann, der immer eine freundliche Bemerkung parat hatte und kaum eine Gelegenheit ausließ, eine Anekdote aus seinem Leben zur See oder irgendein Abenteuer zu erzählen. Manchmal brachte er kleine Geschenke für Pauls Zimmerkameraden mit, und im vergangenen Jahr hatte er sogar auf eigene Kosten eine Barkasse gechartert und Paul und eine Anzahl anderer Jungen zu einer Rundfahrt im Hafen eingeladen.
»Wie ist es?« fragte Paul, als Mike noch immer zögerte. Mike gab sich einen Ruck und stand auf. »Warum nicht?« fragte er. »Vielleicht kann ich deinen Vater überreden, mich als blinden Passagier an Bord seines Schiffes zu schmuggeln.«
Auch in den Räumen des Direktors warfen die kommenden Ferien ihre Schatten voraus. Der Schreibtisch im Vorzimmer war verwaist und völlig aufgeräumt. Mclntires Sekretärin war eine überaus tüchtige Person, aber das genaue Gegenteil des Direktors. Sie war lustig, immer zu einem Scherz aufgelegt, redete ununterbrochen und verbreitete Chaos, wo immer sie auftauchte. Wie auf ein Stichwort hin erschien sie in diesem Moment, bereits mit Mantel, dicken Winterstiefeln und einem jener breitkrempigen Hüte mit einem Gazeschleier, wie sie jetzt in Mode gekommen waren. Als sie die beiden erblickte, lächelte sie.
»Ah, der junge Herr Winterfeld«, sagte sie höflich. »Du bist bestimmt gekommen, um Mäuschen zu spielen und zu hören, was der Herr Direktor mit deinem Vater zu besprechen hat, wie?« Sie blinzelte Paul zu, ging zum Schreibtisch und warf einen letzten Blick auf die blankpolierte Platte, wie um sich zu überzeugen, daß ihr auch kein Stäubchen entgangen war, das den Schreibtisch während ihrer Abwesenheit verunzieren mochte. »Aber daraus wird nichts.«
Paul und Mike tauschten einen verwirrten Blick. Sie waren nicht hierhergekommen, um irgend etwas in Erfahrung zu bringen. Außerdem war die gepolsterte Tür zu Mclntires Allerheiligstem so dick, daß man dahinter schon eine Kanone hätte abschießen müssen, um auf der anderen Seite einen Laut zu hören.
In diesem Augenblick wurde diese Tür geöffnet, und der Direktor von Andara-House trat heraus, dicht gefolgt von Kapitän Winterfeld. Die beiden waren in ein Gespräch vertieft, und McIntire lachte sogar, als er Pauls Vater die Tür aufhielt, und das war etwas, was nun wirklich höchst selten vorkam; es war beinahe Anlaß genug, auf dem Kalender in Mikes Zimmer das heutige Datum mit einem zweiten roten Kringel zu markieren.
Kapitän Winterfeld sah beeindruckend aus wie immer. Über seiner makellosen Paradeuniform trug er einen weißen Mantel mit Fellkragen, und die Kapitänsmütze mit dem goldenen Emblem seines Schiffes verlieh ihm etwas fast Majestätisches. Sein Schnurrbart war sorgsam gezwirbelt und stand so steif von seinem Gesicht ab, als wäre er aus Draht geflochten, und unter dem Mantel klapperte bei jedem Schritt der Offizierssäbel gegen sein Bein. Als er seinen Sohn und Mike erblickte, unterbrach er sein Gespräch mit McIntire für eine Sekunde, um ihnen ein freundliches Nicken zuzuwerfen, dann streckte er dem Direktor zum Abschied die Hand entgegen. »Also dann sehen wir uns nach den Weihnachtsferien wieder.«
»Frisch ausgeruht und bester Dinge«, bestätigte McIntire. »Und machen Sie sich keine Sorgen. Über die paar Kleinigkeiten -« Bei diesen beiden Worten warf er einen unheilschwangeren Blick in Pauls Richtung. »- werden wir uns schon einig.«
Paul schien plötzlich etwas ungemein Interessantes am Fenster entdeckt zu haben, denn seine ganze Aufmerksamkeit war auf einen imaginären Punkt irgendwo hinter Miß McCrooder gerichtet. Kapitän Winterfeld drückte McIntire noch einmal die Hand und wandte sich dann zu ihnen um. McIntire blieb mit der Hand auf der Klinke unter der Tür stehen, aber Winterfeld beachtete ihn nicht mehr.
»Michael!« sagte er mit einem erfreuten Lächeln. »Wie schön, daß wir uns wieder einmal sehen.«
Mike erwiderte Winterfelds festen Händedruck und lächelte ebenfalls. Winterfeld schien aber sofort aufzufallen, daß irgend etwas mit Mike nicht stimmte. Er legte den Kopf schräg und blickte ihn eindringlich an. »Was ist los mit dir?« fragte er geradeheraus. »Du siehst nicht aus wie ein Junge, der sich auf die Ferien freut.«
Das liegt vielleicht daran, daß ich kein Junge bin, der sich auf die Ferien freut, dachte Mike. Er sprach das aber nicht aus, sondern zuckte nur mit den Schultern.
»Ärger?« erkundigte sich Winterfeld.
»Nein«, antwortete Mike, und Paul sagte im gleichen Atemzug: »Ja.«
Der Blick seines Vaters wanderte für einen Moment zwischen seinem und Mikes Gesicht hin und her. »Mike hat keinen besonderen Grund, sich zu freuen«, erklärte Paul. »Er kann in diesen Ferien nicht nach Hause.«
»Ist das wahr?« Winterfeld blinzelte. »Was ist passiert?«
»Es ist so«, schaltete sich der Direktor ein. »Gestern kam ein Brief aus seiner Heimat. Wie es scheint, herrschen in Indien wieder einmal Unruhen. Jedenfalls ist sein Vormund der Meinung, daß es sicherer für Mike ist, wenn er die Feiertage hier bei uns verbringt, statt sich auf die gefahrvolle Reise in eine Provinz zu begeben, in der jeden Moment ein Bürgerkrieg ausbrechen kann.«