»Wonach suchst du eigentlich die ganze Zeit?« fragte Mike.
Singh setzte das Fernrohr ab, drehte sich halb zu dem Jungen herum und sah ihn ohne Überraschung an. Mike hatte sich alle Mühe gegeben, leise zu sein. Er hatte sogar darauf geachtet, daß sein Schatten nicht in Singhs Gesichtsfeld fiel, damit er ihn nicht verriet. Trotzdem mußte Singh schon die ganze Zeit über gewußt haben, daß er da war.
Beharrlich an seiner Schweigsamkeit festhaltend, reichte Singh ihm das Fernrohr und deutete mit der anderen Hand in die Richtung, in die er zuvor geblickt hatte. Mike setzte das Fernrohr an.
Im ersten Moment sah er so gut wie nichts. Der Horizont hüpfte so wild in dem runden, vergrößerten Ausschnitt der Welt auf und ab, den er durch das Glas sah, daß ihm fast schwindelig wurde, und er mußte die andere Hand zu Hilfe nehmen, um das Fernrohr ruhig zu halten. Aber auch danach erkannte er nichts anderes als den Horizont - nur etwas näher.
Singh berührte das Fernrohr mit den Fingerspitzen und drückte es ein Stückchen nach rechts, und für eine Sekunde blitzte etwas vor Mike auf. Er verlor den Gegenstand sofort wieder aus den Augen, aber nun wußte er, wo er zu suchen hatte, schwenkte das Glas wieder zurück - und erstarrte vor Schrecken.
Das Schiff war selbst durch das Fernrohr betrachtet kaum größer als ein Fingernagel; nur ein Umriß, der im regelmäßigen Auf und Ab der Wellen auf dem Horizont erschien und wieder dahinter verschwand, aber Mike wußte trotzdem sofort, was er da sah.
»Die LEOPOLD!« Seine Hände zitterten, als er das Fernrohr wieder absetzte und an Singh zurückgab.
Singh schob das Fernrohr zusammen und verstaute es unter seiner Jacke. »Ich beobachte sie schon seit einer Stunde«, sagte er. »Sie holt auf. Allerdings nicht sehr schnell.«
»Wie lange verfolgen sie uns schon?« fragte Mike. Er war sehr beunruhigt.
»Die ganze Zeit«, antwortete Singh. Er lächelte flüchtig. »Und wir folgen ihnen.«
»Indem wir vor ihnen hersegeln?« fragte Mike zweifelnd.
»Das ist ja gerade der Trick«, antwortete Singh. »Es ist unsere einzige Chance, die Vergessene Insel zu finden, wenn wir uns an Winterfelds Fersen heften. Denn seine Aussichten, die Papiere Eures Vaters zu entschlüsseln und die Position der Insel herauszufinden, sind etwa hundertmal besser als unsere, durch blindes Suchen ans Ziel zu gelangen.«
»Was verschweigst du uns noch, Singh?« fragte Mike. Sing lächelte - und schwieg.
Mike wollte seine Frage wiederholen, als er das Geräusch der sich öffnenden Tür vernahm. Etwas verärgert drehte er sich herum und gewahrte Paul, der gebückt aus der Kajüte trat und grüßend die Hand hob. Mike erwiderte die Geste automatisch, während Singh die Gelegenheit ergriff, sich aus dem Staub zu machen. Allmählich begann Mike das Geschick des Inders zu bewundern, ihm immer wieder auszuweichen, ehe er Gelegenheit fand, ihn wirklich auf ein Thema festzunageln - und das, obwohl die Jacht nun wirklich nicht groß war.
»Hallo, Prinz«, begrüßte ihn Paul - was Mikes Laune auch nicht weiter hob. Er hatte zwar gleich am ersten Morgen klargemacht, daß er sich kein bißchen anders fühlte als vor dem Zeitpunkt, da Singh seine wahre Identität enthüllt hatte, und auch nicht anders behandelt werden wollte (was die anderen sowieso nicht getan hätten), aber natürlich konnte sich keiner der Jungen eine kleine Stichelei dann und wann verkneifen.
»Das Essen ist gleich fertig«, sagte Paul. »Miß McCrooder schickt mich, um dich zu holen. Nicht, daß du eine unserer köstlichen Mahlzeiten versäumst und vom königlichen Fleische fällst«
Mike zog eine Grimasse. Es gab an jedem Tag zumindest einen Moment, an dem sich er und die anderen fast auf das Frachtschiff zurückwünschten - wenn das Essen serviert wurde. Singh hatte den Jungen einen Schnellkurs im Segeln erteilt, so daß sie ihm bei der Führung des Schiffes zur Hand gehen konnten, während Miß McCrooder wie selbstverständlich die Kombüse mit Beschlag belegt hatte und sich um das leibliche Wohl ihrer Schützlinge kümmerte. Der Vorsatz war sicher löblich - aber Miß McCrooder war leider Gottes eine miserable Köchin.
»Gleich«, seufzte Mike mit einem Ausdruck übertriebener Verzweiflung in der Stimme. »Laß mich nur noch ein wenig Kraft sammeln. Außerdem ist der Sonnenuntergang so prächtig.«
Das war allerdings nicht der ganze Grund, aus dem Mike zögerte. Was er durch das Fernrohr gesehen hatte, hatte ihn doch mehr erschreckt, als er zugeben wollte. Fast ohne sein Zutun ging sein Blick wieder nach Süden und irrte über den Horizont. Wahrscheinlich würden noch Stunden vergehen, bis das Schiff nahe genug herangekommen war, um es mit bloßem Auge zu entdecken. Aber er wußte, daß es da war, und dieses Wissen allein bereitete ihm Unbehagen.
»Wonach hältst du Ausschau?« fragte Paul. Er kniff die Augen zusammen und blickte konzentriert in die gleiche Richtung wie er, und für einen Moment war Mike fast sicher, daß er das Schiff seines Vaters sah. Oder wußte, daß es da war.
Der Gedanke gab Mike einen scharfen Stich - und ließ ihn zugleich sein schlechtes Gewissen wieder spüren. Er vertraute Paul; sosehr, daß er ihm ohne zu zögern sein Leben anvertraut hätte. Und doch ... ein winziges Mißtrauen war da, wie ein Stachel, der sich in seine Haut gebohrt hatte und den er einfach nicht herausbekam, so sehr er es auch versuchte. Mike schämte sich dieses Gefühls, aber er wurde es einfach nicht los.
»Nein«, antwortete er hastig. »Ich sehe mir wirklich den Sonnenuntergang an, das ist alles.« Paul sah ihm zweifelnd in die Augen, und Mike fügte etwas leiser hinzu: »Außerdem wollte ich mit Singh sprechen, was mir aber wieder mal nicht gelungen ist. Ich habe noch nie jemanden gekannt, der so stur sein kann wie er. Und ein solches Geschick hat, direkten Fragen auszuweichen.«
»Stimmt«, sagte Paul. »Sogar solchen, die man noch gar nicht gestellt hat.«
Sie lachten beide. Es war ein sehr entspanntes, befreiendes Lachen, und vielleicht war es auch der Grund, aus dem Mike plötzlich den Mut aufbrachte, Paul die Frage zu stellen, die ihm seit drei Tagen auf der Seele brannte:
»Sag mal - tut es dir überhaupt nicht leid, daß du jetzt bei uns bist, statt bei deinem Vater?«
»Du traust mir auch nicht, wie?« antwortete Paul leise. Mikes Frage schien ihn sehr getroffen zu haben.
»Unsinn!« erwiderte Mike. »Ich versuche nur, mir vorzustellen, wie es sein muß ... immerhin ist er dein Vater, und -«
»Und du bist mein Freund!« fiel ihm Paul ins Wort, so unerwartet heftig, daß Mike ihn überrascht ansah. Paul schwieg eine Sekunde, biß sich auf die Unterlippe und fuhr dann leiser fort: »Ach zum Teufel! Ich weiß allmählich selbst nicht mehr, was ich glauben soll! Wenn ich an eurer Stelle wäre, dann würde ich mir wahrscheinlich auch nicht trauen. Wenn du mir die Geschichte vor vier Tagen erzählt hättest, hätte ich dich einfach ausgelacht. Mein Vater als Entführer und Attentäter?« Er schüttelte den Kopf.
»Was immer auf dieser Insel ist, muß unvorstellbar wertvoll sein, daß er sich so weit hinreißen läßt. Hast du denn wirklich keine Ahnung, was es sein kann?«
Mike verneinte. »Wie war das?« sagte er mit einem gequälten Lächeln. »Wenn du mir die Geschichte vor vier Tagen erzählt hättest, hätte ich dich einfach ausgelacht?«
Sie lachten wieder, aber viel leiser als vorhin, und es klang ein wenig unecht. Mike verfluchte sich in Gedanken dafür, diese ganz und gar überflüssige Frage überhaupt gestellt zu haben. Wenn diese Geschichte vorbei war, dachte er, dann würde es wohl eine Menge geben, wofür er sich bei Paul entschuldigen mußte. Mike drehte sich zur Reling und blickte wieder auf die See hinaus, diesmal aber ganz bewußt nicht in Richtung der noch unsichtbaren, aber näher kommenden LEOPOLD. Und vielleicht zum ersten Mal, seit dieses Abenteuer begonnen hatte, begann er zu begreifen, daß sich nicht nur die äußeren Umstände seines Lebens verändert hatten. Selbst wenn alles doch noch ein gutes Ende nahm - Mike würde nie mehr derselbe sein wie vorher. Ganz plötzlich wußte er, daß er nie wieder nach Andara-House zurückkehren würde, ganz gleich, wie diese Reise auch endete, ja vielleicht nicht einmal mehr nach England.