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Der Gedanke erfüllte ihn mit einer sonderbaren Wehmut. An jenem Morgen in London, als sie das Boot bestiegen und zu der verhängnisvollen Fahrt aufgebrochen waren, war ein Abschnitt seines Lebens zu Ende gegangen, den er nie wieder zurückholen konnte. Was nun vor ihm lag, das war vielleicht aufregend, vielleicht gefährlich, vielleicht sogar besser als die Jahre vorher - aber es war auf jeden Fall unbekannt, und aus diesem Grund machte es ihm angst.

Dieses Gefühl mußte deutlich auf seinem Gesicht zu sehen sein, denn Paul legte ihm plötzlich die Hand auf die Schulter und sagte in mitfühlendem Tonfalclass="underline" »Es wird schon nicht so schlimm werden. Weißt du, ich habe trotz allem ein gutes Gefühl bei der Geschichte. Es gibt Tausende von kleinen Inseln in dieser Gegend. Wahrscheinlich schippern wir noch eine Weile durch die Gegend, und irgendwann gibt mein Vater auf.«

»Das glaube ich nicht«, sagte Mike. »So schnell gibt dein Vater nicht auf. Er hat zu viel riskiert, um jetzt die Flinte ins Korn zu werfen. Und er ist seinem Ziel ja schon ziemlich nahe.«

»Falls es dieses Ziel wirklich gibt, ja«, sagte Paul.

»Wie meinst du das?«

»So, wie ich es sage«, antwortete Paul. »Weißt du, ich habe nichts gesagt, als die anderen dabei waren, aber ein bißchen verrückt kam mir die Geschichte schon vor, die dein schwarzäugiger Schutzengel da erzählt hat. Eine Insel, die von Zauberei geschützt wird! Etwas, was so kostbar ist, daß er es nicht einmal dir verraten darf, worum es sich handelt, obwohl es dir gehört. Irgendwie klingt das alles nach einer Abenteuergeschichte, die sich jemand ausgedacht hat, findest du nicht?« Er lachte. »Am Ende wird er noch behaupten, daß diese Göttin selbst sie beschützt, von der er immer spricht... wie hieß sie doch gleich?«

Mike starrte ihn an. »Kali«, flüsterte er. Und dann fügte er mit leiser Stimme hinzu: »Das hat er gesagt, Paul. Mein Gott, ganz genau das hat er gesagt!«

»Ich weiß«, sagte Paul. »Und?«

»Ja, verstehst du denn nicht?« Plötzlich schrie Mike fast. »Es heißt, daß Kali selbst über ihr Geheimnis wacht! Und das hier ist Kali!« Er zerrte den Anhänger unter dem Hemd hervor.

Pauls Unterkiefer klappte vor Staunen herab, als er begriff. Er starrte das goldene Abbild der Göttin Kali an. »Du meinst -«

»Ich meine«, unterbrach ihn Mike aufgeregt, »daß wir alle blind gewesen sind. Ich hatte das Ding die ganze Zeit bei mir, und Singh hat es sogar gesagt!«

»Aber was soll es uns helfen?« fragte Paul. »Wir haben es doch schon so oft untersucht.«

Das stimmte. Aber Mike wußte, daß er auf der richtigen Spur war. »Schnell«, sagte er aufgeregt. »Gehen wir zu Singh.«

Sie fanden den Sikh in der Messe, wo er Miß McCrooder dabei zur Hand ging, das Geschirr aufzutragen. Singh war ein unermüdlicher Arbeiter. Wenn er nicht mit den Segeln hantierte, das Ruder bediente oder über seinen Seekarten brütete, machte er sich auf hundert andere Arten nützlich und half Miß McCrooder sogar beim Kochen.

»Singh!« rief Mike aufgeregt, ohne auf die fragenden Blicke der anderen Jungen zu achten, die überrascht in ihren Gesprächen innehielten, als Paul und er hereingepoltert kamen. »Ich glaube, ich weiß es jetzt!« sagte er atemlos. »Hier! Es heißt, Kali selbst wacht über das Geheimnis, erinnerst du dich?«

Er streifte die Kette ab und gab Singh den Anhänger. Der Sikh nahm ihn entgegen, legte ihn auf seine ausgestreckte Handfläche und betrachtete ihn ehrfürchtig. »Kali!« flüsterte er.

»Mein Vater hat es mir hinterlassen«, antwortete Mike. »Es ist das einzige, was ich überhaupt von ihm habe.«

Zum ersten Mal, seit Mike den Inder kennengelernt hatte, war Singh aufgeregt. »Kali«, murmelte er noch einmal. Dann sah er mit einem Ruck auf. »Die Karte«, sagte er. »Ihr habt mir erzählt, daß bei den Papieren Eures Vaters auch eine Seekarte war - erinnert Ihr Euch?«

»Ja, warum?«

»Glaubt Ihr, daß Ihr sie wiedererkennt?« fragte Singh. Mike nickte zögernd. Er verstand überhaupt nichts vom Kartenlesen, aber schließlich hatte Winterfeld ihm recht genau erklärt, was darauf zu sehen war. »Ich glaube schon - aber wieso?«

Singh schloß die Hand schützend um das Amulett. »Wir brauchen den Tisch«, sagte er dann. »Schnell!«

Natürlich ließen sich die Jungen das nicht zweimal sagen. Unter beifälligen Bemerkungen verschwanden Teller und Besteck in Windeseile. »Aber ... aber das Essen!« protestierte Miß McCrooder. »Was ist denn mit dem Essen? Ich habe mir solche Mühe gegeben!«

Niemand schenkte ihr Beachtung. Nach kaum einer Minute war der große Tisch frei, und Singh schleppte einen ganzen Arm voll zusammengerollter Seekarten an, die er darauf ablud und eine nach der anderen glattzustreichen begann.

Mikes Mut sank, als er das Durcheinander von Linien, Zahlen, Markierungen, Längen- und Breitengraden sah. Obwohl er noch immer davon überzeugt war, daß des Rätsels Lösung tatsächlich irgendwie mit seinem Amulett zu tun hatte, fragte er sich, wie um alles in der Welt sie die Darstellung der Göttin Kali zur Vergessenen Insel führen sollte.

»Also gut«, begann Singh, nachdem er die Karten nacheinander ausgerollt und auf dem Tisch übereinandergestapelt hatte. »Versuchen wir die Karte zu finden, die Winterfeld Euch gezeigt hat.«

Was so leicht gesagt war, erwies sich als zeitaufwendiges und anstrengendes Unterfangen. Singh sortierte zuerst alle Karten, die andere Seegebiete als die Karibik zeigten, aus. Aber es verblieb immer noch ein großer Rest, und als vor Mike nur noch drei Karten lagen, hatte er rasende Kopfschmerzen und brennende Augen.

Aber damit fing die eigentliche Arbeit erst an.

Irgendeine Beziehung zwischen dem Amulett und der Karte mußte es geben. Sie versuchten, die Größe des Anhängers mit der irgendeiner Insel in Beziehung zu setzen. Nichts. Sie suchten nach einem Eiland oder einer Inselgruppe, die der Form des Amuletts ähnelte. Ohne Ergebnis. Sie suchten nach einer Insel, deren Name ungefähr so klang wie Kali, ohne sie zu finden. Sie ließen das Amulett wie eine Münze auf der Schmalseite über die Karte rollen und hofften, sie würde sie wie durch Zauberei zu ihrem Ziel führen, und taten noch viele andere Dinge, die auf bloßes Herumraten hinausliefen.

Schließlich sprach Juan aus, was sie sich insgeheim alle schon dachten. »Das hat doch keinen Zweck«, sagte er müde. »Wir können noch Jahre suchen, ohne diese verdammte Insel zu finden. Wahrscheinlich ist sie gar nicht auf dieser Karte verzeichnet, sondern nur auf der, die dein Vater dir hinterlassen hat.«

»Wenn das so wäre, hätte mein Vater sie längst gefunden«, sagte Paul. »Wenn es eine Insel gäbe, die nur auf dieser einen Karte verzeichnet ist, dann brauchte er sie nur mit einer x-beliebigen anderen Seekarte zu vergleichen, und schon hätte er sie. Nein, ich wette, daß diese Insel auf keiner Karte der Welt zu finden ist.«

»Welchen Sinn sollte diese Karte dann überhaupt haben?« fragte André.

An Pauls Stelle antwortete Mike. »Ich weiß es nicht. Aber irgend etwas ... war anders als hier.« Er nahm eine der drei übriggebliebenen Karten zur Hand und blickte sie konzentriert an. Er hatte immer mehr das Gefühl - nein, er wußte! -, daß er die Lösung im wahrsten Sinne des Wortes in den Händen hielt. Aber sie schien etwas von einem glitschigen Fisch an sich zu haben, immer, wenn er sie wirklich ergreifen wollte, glitt sie ihm zwischen den Fingern hindurch.

»Vielleicht hat dein Vater sie aus dem Gedächtnis gezeichnet und deshalb nicht ganz richtig?« vermutete Miß McCrooder.