Mike schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er. »Sie sah genau aus wie diese, aber sie war...« Ganz plötzlich fiel es ihm wieder ein. »Sie war auf Pergament gezeichnet«, sagte er. »Auf ganz dünnem Pergament, das fast durchsichtig war!«
Der Inder sah plötzlich sehr angespannt drein. »Pergament?« vergewisserte er sich. »Beinahe durchsichtiges Papier?« Mike nickte, und Singh fuhr fort: »Erinnert Ihr Euch, wie groß sie war?«
»Nicht besonders groß«, antwortete Mike. »Viel kleiner als diese hier. Ich habe mich noch gewundert, warum sie so klein war. Er muß manche von den Zahlen und Buchstaben mit der Lupe geschrieben haben.«
»Das ist es!« sagte Singh. »Ich glaube, Ihr habt die Lösung gefunden.«
»So?« murmelte Mike. »Na, wenigstens einer glaubt das.«
Singh lächelte flüchtig. Er stand auf. »Wir haben kein Pergament an Bord«, sagte er, »und auch nicht das nötige Werkzeug, um eine wirklich genaue Karte zu zeichnen. Aber vielleicht geht es auch anders herum.«
Er trat an den Kartenschrank und kam gleich darauf mit Schere, Klebstoff, Reißnägeln und einigen starken Kartons zurück.
»Was hast du vor?« fragte Mike.
Singh lächelte abermals, antwortete aber auch jetzt nicht, sondern wandte sich an Juan. »Darf ich Euch bitten, mir eine der Laternen von Deck zu bringen?« Als Juan sich gehorsam entfernte, deutete Singh auf die Karte und reichte André die Reißnägel. »Befestigt sie an der Wand«, sagte er. »Direkt über dem Tisch. Und möglichst gerade.«
Für jemanden, dessen Lebensinhalt das Dienen und Gehorchen war, dachte Mike, verstand sich Singh ziemlich gut aufs Befehle-Erteilen. Aber er sagte nichts, sondern sah wortlos weiter zu, was geschah. Juan brachte die Laterne, und während André mit Bens Hilfe die Karte an der Wand befestigte, begann Singh aus dem Karton einen rechteckigen Kasten zu falten, in dessen Vorderseite er ein kleines, rundes Loch schnitt. Behutsam plazierte er die Laterne in der Mitte der Tischplatte, zündete sie an und stülpte den schwarzen Kasten darüber, so daß ihr Licht fast vollkommen abgeschirmt wurde. Schließlich bat er Miß McCrooder, die Gaslampe herunterzudrehen, die die Messe erhellte.
Mike sog überrascht die Luft zwischen die Zähne, als das Licht matter wurde und schließlich ganz erlosch. Es wurde nicht vollständig dunkel. Durch das Loch, das Singh in den Karton geschnitten hatte, fiel ein kegelförmiger Lichtstrahl auf die Karte an der Wand. Singh rückte die Lampe ein paarmal hin und her, bis der gelbe Kreis aus Licht genau auf das Zentrum der Karte gerichtet war. Dann nahm er das Amulett und setzte es in den ausgeschnittenen Kreis in der Pappe, der genau der Größe des Schmuckstückes entsprach.
Das Ergebnis war verblüffend. Singhs improvisierte Laterna magica projizierte die Umrisse des Amuletts zigfach vergrößert auf die Karte an der Wand. Singh bewegte das Amulett noch ein paarmal vorsichtig, um es endgültig auszurichten, aber plötzlich war es, als glitte es ganz von selbst in die richtige Position. Und obgleich Mike bereits geahnt hatte, was geschehen würde, fühlte er doch ein fast ehrfürchtiges Schaudern, als Singh die Hand endgültig zurückzog.
Der Schatten der Göttin war über eine Gruppe von sieben kleinen Inseln gefallen. Ihre Füße ruhten auf zwei langgestreckten Atollen, die genau nebeneinander angeordnet waren, und fünf ihrer sechs Hände berührten jeweils eine winzige Insel. Nur die sechste, linke obere Hand deutete ins Leere. Aber plötzlich wußte Mike, daß das gar nicht stimmte. Die Karte war nicht korrekt. In diesem einen Punkt stimmten alle Karten der Welt nicht. Denn dort, wohin Kalis sechste Hand wies, lag die Vergessene Insel Prinz Dakkars.
Sie brauchten vier Tage, um die Position zu erreichen, die ihnen der Schatten Kalis verraten hatte. Das Wetter war günstig, und die ganze Zeit über wehte ein kräftiger Wind, so daß sie sich nur mit Hilfe der Segel fortbewegen und so kostbaren Treibstoff sparen konnten. Wahrscheinlich hätten sie die Insel bereits am Abend des vierten Tages erreichen können, doch Singh entschied, daß es sicherer war, bis zum nächsten Sonnenaufgang zu warten. Sie ankerten am westlichen Rand einer Inselgruppe, die aus drei großen und Dutzenden von kleinen Atollen bestand, zwischen denen sich ein wahres Labyrinth gefährlicher Riffe erhob. Niemand hatte Einwände dagegen gehabt, dieses Hindernis erst am nächsten Morgen zu durchqueren, denn dieses Unternehmen war wahrscheinlich schon bei Tageslicht lebensgefährlich. Bei Dunkelheit war es purer Selbstmord. So gingen sie zeitig schlafen, um am nächsten Tag in aller Herrgottsfrühe weiterzusegeln. Trotz aller Aufregung bei dem Gedanken an das, was sie am nächsten Tag erwarten mochte, schliefen sie alle bald ein. Ihren Verfolger hatten sie beinahe vergessen.
Aber dieser sie nicht.
Mike wachte mitten in der Nacht auf, und er wußte zwar nicht, was, aber ganz genau, daß ihn etwas geweckt hatte. Schritte? Stimmen? Vielleicht auch nur eine Welle, die sich am Rumpf des Bootes gebrochen hatte; oder irgend etwas war umgefallen. Aber er war nicht von selbst wach geworden.
Mike lauschte eine ganze Weile in die Dunkelheit hinein. Er hörte jetzt nichts mehr, aber er wußte, daß er sowieso keinen Schlaf mehr finden würde. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, daß die Sonne in einer guten halben Stunde bereits wieder aufging, und dann segelten sie ohnehin weiter. Also stand er auf, zog sich an und verließ seine Kajüte, sehr leise, um die anderen nicht zu wecken.
Als er auf Zehenspitzen durch den niedrigen Gang schlich, drang ihm ein leichter, brandiger Geruch in die Nase - eine Mischung aus verschmortem Holz und brennendem Gummi, wie ihm schien. Mike verzog das Gesicht zu einem wehleidigen Grinsen - Miß McCrooders Essen gestern abend hatte ungefähr so geschmeckt.
Gebückt näherte er sich der Tür, streckte die Hand nach der Klinke aus - und erstarrte mitten in der Bewegung. Der Brandgeruch wurde stärker. Es war nicht das Abendessen von gestern, das er roch. Der Geruch kam ... von draußen!
Roter Feuerschein schlug ihm entgegen, als er die Tür öffnete und auf das Deck hinaustrat. Eine dichte Qualmwolke hüllte das hintere Drittel des Schiffes ein.
»Feuer!« schrie Mike. »Feuer an Bord!«
Er hustete, hob schützend die Hand vor das Gesicht und bewegte sich vorsichtig in die schwarze Qualmwolke hinein, in der es immer wieder weiß und orangerot aufloderte. Asche, glühendheiße Luft und brennende Stoffetzen wehten ihm entgegen, und das Deck unter seinen nackten Füßen war bereits unangenehm warm. Ein Blick nach oben zeigte ihm, daß das Segel noch nicht Feuer gefangen hatte. Aber das allein war schon ein kleines Wunder, und es war nur noch eine Frage von Augenblicken, bis es geschehen würde.
Die Hitze machte ihm das Atmen schwer und trieb ihm die Tränen in die Augen, so daß er kaum noch sah, was vor ihm lag, sondern halb blind auf das Zentrum des lodernden weißen Lichtes zustolperte. Er war sich der Gefahr, in der sie allesamt schwebten, auf eine sonderbar distanzierte Art bewußt, fast als wäre er nur ein unbeteiligter Zuschauer, und außerdem erschien ihm die Vorstellung, auf einem Schiff auf hoher See zu verbrennen, so absurd, daß er Mühe hatte, gegen ein hysterisches Lachen anzukämpfen.
Mike hatte fast das Heck der Jacht erreicht, als ihm klarwurde, daß es gar nicht das Schiff war, das brannte. Die Flammen schlugen aus dem kleinen Beiboot, das an einem Tau achtern angebracht war, aber sie brannten so hoch und mit solch wütender Kraft, daß es sich nur noch um Augenblicke handeln konnte, bis sie auf die Jacht selbst übergriffen. Taumelnd und mühsam um jeden Atemzug kämpfend, erreichte er das Heck, fiel auf die Knie und versuchte das Tau zu lösen, mit dem das kleine Ruderboot festgebunden war.
Mike schrie vor Schmerz, als seine Finger das Metall der niedrigen Reling berührten. Es war glühend heiß. Eine Sekunde lang hockte er wimmernd da und preßte die versengten Handflächen gegen den Leib, dann biß er die Zähne zusammen und versuchte es noch einmal.