Es war aussichtslos. Der Knoten hatte sich so festgezogen, daß Mike eine Brechstange gebraucht hätte, um ihn aufzubekommen, und er konnte nicht einmal richtig zupacken, denn auch das Tau selbst war mittlerweile so heiß, daß seine Berührung weh tat. Außerdem hatte der Wind gedreht, so daß die Flammen nun direkt in seine Richtung züngelten. Trotzdem riß und zerrte er verzweifelt weiter an dem Tau; mit dem einzigen Ergebnis allerdings, daß er sich die Fingernägel abbrach und Blut über seine versengten Hände lief.
Hinter ihm wurden aufgeregte Stimmen laut. Schreie und das hastige Poltern von Schritten drangen durch das Prasseln der Flammen zu ihm. Das Holz unmittelbar vor ihm war bereits schwarz, und in dem gesprungenen Lack begannen sich die ersten kleinen Glutnester festzusetzen. Noch eine Minute, allerhöchstens, und die Reling würde aufflammen wie ein Stück trockener Zunder. Mike raffte noch einmal all seine Kraft zusammen und zerrte mit aller Gewalt an dem Knoten. Aber er wußte, daß er es nicht schaffen würde.
Und dann war plötzlich Singh neben ihm. Mit einer Hand packte er Mike, riß ihn in die Höhe, in der anderen hielt er einen Dolch. Der Stahl durchtrennte das Tau, und die Strömung, die das Boot bis jetzt unruhig auf der Stelle hatte hüpfen lassen, ergriff es sofort und trieb es davon. Die Flammen, die noch vor einer Sekunde wie die gierigen Hände eines tausendfingrigen glühenden Ungeheuers nach dem Schiff gezüngelt hatten, griffen plötzlich ins Leere, und der Qualm begann sich zu lichten. Mike konnte wieder atmen.
Alles begann sich um ihn zu drehen. Er hustete qualvoll, wankte und wäre zusammengebrochen, hätte Singh ihn nicht im letzten Moment aufgefangen. Ihm war entsetzlich übel, und er begann die Schmerzen in seinen Händen und die Atemnot erst jetzt richtig zu spüren. Durch einen Schleier aus Tränen und Schwäche nahm er wahr, wie plötzlich auch die fünf anderen und Miß McCrooder neben ihm auftauchten und ihn mit Fragen zu bestürmen begannen. Aber er war viel zu schwach, um zu antworten. Er verstand nicht einmal die einzelnen Worte.
»Laßt ihn in Ruhe!« sagte Miß McCrooder schließlich. »Seht ihr denn nicht, wie es ihm geht? Er ist -« Sie brach ab. Mike hörte, wie sie scharf die Luft einsog. »Deine Hände!« sagte sie erschrocken. »Mein Gott, Mike - was ist mit deinen Händen?«
Mike antwortete auch darauf nicht - aber er konnte einen Schmerzensschrei nicht unterdrücken, als sie nach seinen Händen griff, um sie zu begutachten.
»Schnell!« sagte sie. »Helft mir, ihn unter Deck zu bringen! Wir müssen ihn versorgen.«
Mike wußte nicht, wer es war, der ihn unter den Armen ergriff und mehr unter Deck trug, als er ihn führte; er war einer Ohnmacht so nahe, wie es nur ging.
Erst endlose Minuten später kam er wieder halbwegs zu sich. Er saß auf der Bank in der Messe, und seine Hände steckten in dicken, weißen Verbänden, die so hinderlich und unpraktisch waren wie Fausthandschuhe. Die Verbrennungen, die er sich zugezogen hatte, waren gottlob nicht ganz so schlimm gewesen, wie es bei all dem Blut und Ruß auf seiner Haut ausgesehen hatte; trotzdem würde er spätestens am nächsten Morgen ein paar gehörige Brandblasen haben und sich wahrscheinlich tagelang jeden Handgriff dreimal überlegen müssen, den er tat. Aber alles in allem hätte es schlimmer kommen können - um nicht zu sagen, er hatte Glück gehabt.
Miß McCrooder war gerade dabei, ihm das zum ungefähr fünften Mal zu versichern, als Singh und die anderen Jungen zurückkamen. Chris hatte Miß McCrooder dabei assistiert, Mikes Hände zu verbinden, während Paul, Juan, Ben und André dem Sikh geholfen hatten, das Schiff gründlich nach Schäden zu inspizieren und vor allem nach Glutnestern Ausschau zu halten, damit ihnen die Jacht nicht doch noch über den Köpfen abbrannte, wenn sie schon glaubten, es geschafft zu haben.
Singhs erste Frage galt natürlich Mike. »Wie geht es Euch, Herr?« erkundigte er sich besorgt. »Seid Ihr schwer verletzt?«
»Danke«, antwortete Mike. »Ich fühle mich schon wieder ganz gut. Es ist nicht so schlimm.«
Miß McCrooder hatte ihm zwar eindringlich erklärt, daß es nicht besonders schlimm war und er nicht einmal eine Narbe zurückbehalten würde, aber seine Hände fühlten sich an, als hätte jemand angefangen, ihm die Haut abzuziehen; und zwar jemand, der mit Feuereifer bei der Sache war.
»Ihr habt großes Glück gehabt«, fuhr Singh fort. »Ihr hättet schwer verletzt oder gar getötet werden können. Wir alle haben großes Glück gehabt. Wäre das Feuer auch nur wenige Minuten später entdeckt worden -«
»Das hat nichts mit Glück zu tun«, sagte Mike. »Ich habe jemanden gehört.«
Juan, der unmittelbar neben Singh stand, riß ungläubig die Augen auf, aber der Sikh schien kein bißchen überrascht. »Jemanden gehört? Wen?«
»Keine Ahnung«, sagte Mike. »Aber irgend jemand ist auf Deck herumgeschlichen. Ich bin davon wach geworden. Deshalb habe ich das Feuer rechtzeitig entdeckt.« Während er dies sagte, ließ er seinen Blick aufmerksam von einem Gesicht zum anderen schweifen. Aber er entdeckte nirgendwo ein verräterisches Blinzeln oder auch nur so etwas wie Verlegenheit. Wer immer es gewesen war, er hatte sich ausgezeichnet in der Gewalt.
»Moment mal«, sagte Ben. »Soll das heißen, jemand hat das Feuer ... gelegt?«
»Wenn nicht der Blitz auf dem Beiboot eingeschlagen hat, ist das wohl die einzige Erklärung«, antwortete Mike.
»Es war so«, sagte Singh ruhig. »Hier. Das habe ich aus dem Wasser gefischt.« Er warf ein Stück Segeltuch auf den Tisch, das er bis jetzt zusammengeknüllt in der Hand gehalten hatte. Mike griff ungeschickt mit seinen bandagierten Händen danach, und sofort fiel ihm der stechende Geruch auf.
»Petroleum?« fragte er.
Singh nickte. »Ja. Deshalb brannte das Boot wie eine Fackel. Es wäre völlig aussichtslos gewesen, es löschen zu wollen.«
»Das heißt, wir haben einen Verräter an Bord«, grollte Ben. Er sah Paul bei diesen Worten durchdringend an, und natürlich reagierte dieser ganz genau so, wie Mike befürchtet hatte.
»Was starrst du mich so an?« schnappte er. »Glaubst du, daß ich es war?« Ben verzog abfällig die Lippen. »Zuerst das kleine Mißgeschick bei unserer Flucht, und jetzt das - du mußt uns wirklich für sehr blöd halten, wie?«
»Kaum«, antwortete Paul herausfordernd. »Ausgenommen dich vielleicht. Denkst du, ich bin verrückt und zünde das Schiff an, auf dem ich selbst bin? Ich wäre zusammen mit euch verbrannt oder ertrunken. Denk mal darüber nach, Schlaumeier.«
Singh deutete auf den petroleumgetränkten Lappen, den Mike wieder auf den Tisch zurückgelegt hatte. »Ich glaube, daß der, der das Feuer gelegt hatte, selbst nicht mit einem solchen Erfolg rechnete.«
»Natürlich nicht«, sagte Paul sarkastisch. »Ich wollte nur das Beiboot versenken, daß sich niemand damit aus dem Staub machen konnte. Kann ja sein, daß einer vorhat, nach England zurückzupaddeln.«
»Ich denke nicht, daß es dem Attentäter darum ging, das Boot zu versenken«, erwiderte Singh, noch immer sehr ruhig.
»Worum dann?« fragte Mike.
Singh machte eine vage Handbewegung. »Ein solches Feuer sieht man auf dem Meer meilenweit«, sagte er. »Noch dazu nachts.« Er seufzte. »Es wird gleich hell. Wir müssen die Segel setzen. Ich bin ziemlich sicher, daß wir bald Gesellschaft bekommen.«
Singh behielt recht. Nicht einmal zehn Minuten später begann der erste graue Schimmer der Dämmerung das Samtblau der Nacht zu zersetzen, und sie segelten los. Und als das Licht heller wurde und sie weiter sehen konnten, erblickten sie die LEOPOLD, die weniger als fünf Meilen entfernt war und mit voller Kraft auf die kleine Segeljacht zuhielt.
Ungeachtet seiner indischen Abstammung hatte Mike nie an ein vorherbestimmtes Schicksal geglaubt oder gar daran, daß es irgendwelche Mächte gab, die dieses Schicksal steuerten und sich irgendwie um das Tun und Sein der Menschen kümmerten. Aber wenn es sie gab, dachte er, dann hatten sie einen besonders bizarren Sinn für Humor und eine Schwäche für grausame Scherze.