Ihre verzweifelte Flucht dauerte nunmehr gute vier Stunden. Die LEOPOLD war in dieser Zeit ein halbes dutzendmal so nahe gekommen, daß sie die Gestalten an Deck des riesigen Kriegsschiffes erkennen konnten, und ebensooft so weit zurückgefallen, daß sie kaum mehr ein Schatten auf dem Horizont gewesen war.
Das Schlachtschiff war sehr viel schneller als die kleine Segeljacht, aber Singh hatte sich als überaus geschickter Steuermann erwiesen, und es war ihm immer wieder gelungen, eine Fahrrinne in dem Labyrinth aus winzigen Inselchen und Atollen zu entdecken, die zu flach für den gepanzerten Giganten war, oder eine Passage zwischen zwei Riffen, durch die sie hindurchschlüpfen konnten, während ihr Verfolger das Hindernis weitläufig umschiffen mußte und dabei wertvolle Zeit verlor. Singh hatte mit dem deutschen Kriegsschiff regelrecht Katz und Maus gespielt. Zwei- oder dreimal hatten sie sogar ernsthaft geglaubt, der LEOPOLD entkommen zu sein, aber das Schiff war stets wie ein Gespenst wieder hinter ihnen erschienen, ein unheimlicher, riesiger Verfolger, den sie einfach nicht abschütteln konnten, ganz egal, wie sehr sie es auch versuchten. Aber nun war ihre Glückssträhne endgültig zu Ende. Sie hatten die Gruppe aus Inseln und Korallenriffen hinter sich gelassen und wieder Kurs auf offene Gewässer genommen, und in diesen war die LEOPOLD mit ihren mächtigen Maschinen der Jacht haushoch überlegen. Sie kam immer näher.
Vielleicht hätte Mike den Gedanken, dieses Rennen am Ende doch zu verlieren, sogar noch akzeptiert, denn er bildete sich nicht ernsthaft ein, das Glück gepachtet zu haben. Was es ihm - und allen anderen auch - so schwermachte, sich in die scheinbar unvermeidliche Niederlage zu schicken, war der Umstand, daß sie ihr Ziel beinahe erreicht hatten. Vor einer halben Stunde hatte Singh wortlos auf einen Schatten gedeutet, der vor ihnen auf dem Horizont erschienen war, und obwohl er kein einziges Wort gesagt hatte, wußte Mike, was vor ihnen lag.
Die Vergessene Insel.
Der Anblick erfüllte Mike mit Zorn und Enttäuschung, die ihm fast die Tränen in die Augen trieb. Während der letzten halben Stunde war aus dem Punkt am Horizont eine gewaltige Felseninsel geworden, die sich wie eine von der Hand der Natur erschaffene, uneinnehmbare Festung aus dem Meer erhob. Mike schätzte ihre Größe auf eine gute Meile. Ihre Flanken erhoben sich nahezu senkrecht aus dem Wasser, das sich in tosender Gischt an den Felsen brach, und wenn man genau hinsah, konnte man die verräterischen Wellen erkennen, die sich schon etliche Dutzend Meter davor auf der Wasseroberfläche bildeten. Die Insel mußte von einem wahren Schutzwall aus Riffen und unterseeischen Felsen umgeben sein, der es nahezu unmöglich machte, sich ihr zu nähern, geschweige denn, an Land zu gehen. Doch selbst, wenn es ihn nicht gegeben hätte - sosehr sich Mike auch anstrengte, er konnte nirgends etwas wie einen Strand erkennen, keine Bucht, kein Fleckchen, an denen die Wellen nicht mit furchtbarer Wucht gegen den Fels brandeten. Jeder Versuch, die Insel anzulaufen, konnte nur in einer Katastrophe enden. Vielleicht gab es auf der anderen Seite des Eilandes eine Möglichkeit, es zu erreichen, ohne daß das Schiff vorher von Riffen aufgeschlitzt und anschließend gegen die Steilküste geworfen und zerschmettert wurde, aber Mike wußte, daß ihnen nicht mehr die Zeit blieb, danach zu suchen. Die LEOPOLD hatte sie fast eingeholt.
Er drehte sich herum und sah zu Winterfelds Schlachtschiff zurück, wie er es in den letzten zehn Minuten unzählige Male getan hatte. Die Jacht schoß mit prall geblähten Segeln vor dem Wind dahin, und Singh hatte den Hilfsmotor eingeschaltet, um auch noch das letzte bißchen Geschwindigkeit aus dem Schiff herauszuholen. Trotzdem näherte sich die LEOPOLD unaufhaltsam. Mike hatte sogar das Gefühl, daß das Schiff sein Tempo ein wenig gedrosselt hatte; wahrscheinlich hatte man auch dort die Gefahr bemerkt, die von den verborgenen Riffen ausging, und wollte kein unnötiges Risiko eingehen. Und warum auch? Sie konnten dem Schiff nicht mehr entkommen. Und selbst wenn, dachte Mike - sie hatten Winterfeld schließlich genau dorthin geführt, wo er es gewollt hatte. Für einen Moment fragte er sich allen Ernstes, ob der deutsche Kapitän ihre Flucht nicht im stillen unterstützt - oder zumindest stillschweigend geduldet - hatte, damit genau das geschah, was nun geschehen war.
Er verscheuchte den Gedanken. Es war müßig, sich den Kopf zu zerbrechen. In spätestens einer Stunde würden sie alle Antworten erfahren; wahrscheinlich sogar eher.
Nun konzentrierte er sich wieder auf das, was vor ihnen lag. Singh hatte den Kurs der Jacht abermals ein wenig korrigiert, so daß sie nun beinahe parallel zu der Insel dahinjagten, statt sich ihr in spitzem Winkel zu nähern. Der Anblick war majestätisch und furchterregend zugleich. Die Insel war bar jeglicher Vegetation, und ihre Flanken erhoben sich nicht nur scheinbar, sondern tatsächlich vollkommen gerade aus dem Meer. Sie sah aus wie ein titanischer Felspfeiler, den jemand zwanzig oder dreißig Meter über dem Wasser abgeschnitten hatte. Wahrscheinlich gab es dort oben ein Plateau, auf dem sich das verbarg, was immer das wahre Geheimnis dieser Insel war.
Der Gedanke, so kurz vor dem Ziel zu scheitern, machte Mike fast krank. Er wandte sich zu Singh um, der hoch aufgerichtet hinter dem Ruder stand und die Insel und vor allem das Meer an ihrem Fuß keine Sekunde aus dem Auge ließ.
»Gibt es denn gar keine Möglichkeit zu entkommen?« fragte er.
Er rechnete nicht mit einer Antwort. Vermutlich brachte er sie alle in Gefahr, wenn er Singh ablenkte, denn in diesen tückischen Gewässern konnte schon ein Moment der Unaufmerksamkeit zum Verhängnis werden. Trotzdem antwortete Singh nach einigen Sekunden.
»Vielleicht«, sagte er. »Wenn wir die andere Seite erreichen, haben wir eine kleine Chance. Aber es wird gefährlich.«
Mike hätte um ein Haar gelacht. Gefährlich? Was glaubte Singh denn, was ihre Reise bisher gewesen war? Trotzdem fragte er: »Wie gefährlich?«
»Es könnte unser aller Leben kosten«, antwortete Singh. Er hörte sich nicht so an, als erschrecke ihn dieser Gedanke sonderlich.
»Aber wir haben eine Chance?« vergewisserte sich Mike.
»Eine kleine«, sagte Singh. »Wenn unser Vorsprung reicht und die Götter auf unserer Seite sind.«
Mike sah wieder zur LEOPOLD zurück. Was Singhs Götter anging, so maßte er sich kein Urteil an - aber die LEOPOLD war tatsächlich langsamer geworden. Sie kam noch immer näher, aber ihr Vorsprung schmolz jetzt nicht mehr so rasch wie bisher.
»Dann versuch es«, sagte er.
Singh zögerte. »Es ist nicht nur Euer Leben, über das Ihr entscheidet«, sagte er. »Habt Ihr Eure Freunde gefragt, ob Ihr auch ihres riskieren dürft?«
Mike sah ihn betroffen an. Es machte ihn verlegen, daß Singh ihn darauf hatte aufmerksam machen müssen. Aber er mußte gar nicht fragen. Alle anderen standen in Hörweite, und er empfand ein Gefühl tiefer Dankbarkeit, als er die Zustimmung in ihren Augen erkannte. Aber er spürte auch die Last der Verantwortung, die damit auf seine Schultern gelegt worden war.
»Versuch es«, sagte er leise, aber sehr entschlossen.
Das Schiff schoß weiter wie ein Pfeil auf den Wellen dahin, und die steinernen Flanken der Felseninsel jagten nur so an ihnen vorüber, und trotzdem hatte Mike plötzlich das Gefühl, als liefe die Zeit zehnmal langsamer. Die LEOPOLD fiel weiter hinter ihnen zurück, und die bisher unsichtbare Rückseite der Vergessenen Insel tauchte nun vor ihnen auf.
Mike hatte alle Mühe, seine Enttäuschung zu verbergen. Die Rückseite der Insel unterschied sich in nichts von der Vorderseite. Der Fels war wie eine solide Mauer, in der es nicht die kleinste Lücke zu geben schien.
Plötzlich wehte ein dumpfer Knall über das Meer zu ihnen heran. Kaum eine Sekunde später hörten sie ein schrilles, immer lauter werdendes Heulen, und dann schoß eine turmhohe, weiße Gischtsäule kaum hundert Meter vor dem Bug der Jacht in die Höhe. Die Druckwelle ließ die Jacht erbeben wie ein welkes Blatt im Sturm, und ein ganzer Schwall eiskalten Wassers ergoß sich über das Deck und durchnäßte sie bis auf die Knochen. Singh fluchte lauthals in seiner Muttersprache und drehte wie wild am Ruder, um das Schiff auf dem plötzlich kochenden Meer auf Kurs zu halten, und Mike klammerte sich an der Reling fest.