»Dann ist alles verloren«, sagte Trautman. »Sie werden die Passage entdecken und das alles hier finden.« Sein Blick schien plötzlich mitten durch Singh hindurch ins Leere zu gehen. »Du weißt, was das bedeutet.«
»Noch haben wir etwas Zeit«, erwiderte Singh hastig. »Was ist mit dem Schiff? Mit etwas Glück können wir die Insel verlassen, ehe sie den Weg durch die Riffe gefunden haben.«
Trautman lächelte bitter. »Nein«, sagte er. »Das können wir nicht, Singh. Du kennst Nemos Befehl so gut wie ich.«
Singh machte eine ärgerliche Handbewegung. »Er konnte nicht ahnen, was geschehen würde«, sagte er. »Seien Sie vernünftig, Trautman! Wollen Sie, daß sein Sohn stirbt?«
»Natürlich nicht«, antwortete Trautman. Er lächelte noch immer auf diese seltsam traurige Art. »Es hat nichts mit Wollen zu tun, Singh«, sagte er. »Ich...« Er stockte, suchte einen Moment nach den richtigen Worten und drehte sich dann zur Seite, um sein Gewehr an die Wand neben der Tür zu lehnen.
»Es spielt jetzt ohnehin keine Rolle mehr«, sagte er. »Also kommt mit.«
Während sie Trautman wieder in den angrenzenden, großen Raum und zu einer zweiten, verborgenen Tür folgten, tauschte Mike einen Blick mit Singh, aber der Sikh tat so, als verstünde er die unausgesprochene Frage in seinen Augen nicht. Mike sah ihm allerdings deutlich an, daß er, vielleicht zum ersten Mal, seit sie sich kennengelernt hatten, tatsächlich Angst hatte.
Sie durchquerten die Halle und begannen eine schmale, steil in die Tiefe führende Treppe hinabzusteigen, ehe es ihm gelang, an Singhs Seite zu kommen. »Wer ist das, Singh?« fragte er im Flüsterton.
»Ein Vertrauter Eures Vaters«, antwortete Singh. »Ein Freund. Vielleicht der einzige, den er jemals wirklich hatte. Er hat geschworen, sein Erbe bis zu seinem Tod zu beschützen.«
»Meines Vaters?« wiederholte Mike zweifelnd. »Oder dieses ... wie hat er ihn genannt? Nemo?«
Nun lächelte Singh. »Noch einen kleinen Moment Geduld, Herr«, sagte er. »Ihr werdet gleich alles verstehen.«
Die Treppe führte scheinbar endlos in die Tiefe. Mike gab es nach hundert Stufen auf, die Schritte zählen zu wollen, aber als sie endlich ihr Ende erreicht hatten, war er sicher, daß sie sich tief unter dem Meeresspiegel befinden mußten, und die Vorstellung erfüllte ihn mit Unbehagen. Er glaubte die Millionen und Abermillionen Tonnen Wasser fast körperlich zu fühlen, die auf dem Stein über ihren Köpfen lasteten, und war da nicht ein leises Knistern, das regelmäßige Geräusch von fallenden Tropfen und das Mahlen von Fels, der unter dem unvorstellbaren Gewicht genau in diesem Moment nachzugeben begann, und -
Der Gedanke endete so abrupt wie abgeschnitten. Mikes Augen weiteten sich. Er blieb stehen, als wäre er an eine unsichtbare Wand geprallt. Einer der anderen stolperte gegen ihn, aber das spürte Mike nicht einmal. Für die nächtsten, schier endlosen Sekunden registrierte er rein gar nichts von dem, was um ihn herum vorging. Er stand einfach da und starrte an Singh und Trautman vorbei in die Tiefe.
Der Gang führte auf eine schmale, steinerne Galerie hinaus, die sich in gut zwanzig Metern Höhe an den Wänden einer gewaltigen Höhle entlangzog, deren Boden allerdings nur zu einem kleinen Teil aus massivem Fels bestand. Der weitaus größte Teil wurde von den Fluten eines natürlichen, unterseeischen Hafens bedeckt.
Und direkt unter ihnen lag der Koloß.
Das Schiff - wenn es ein Schiff war, denn Mike hatte nie zuvor etwas gesehen, was diesem phantastischen Gefährt auch nur ähnelte - mußte an die hundert Meter lang sein und war von schlanker Form, die an eine stählerne Zigarre erinnerte. Der Rumpf bestand aus Stahl, der in einem unheimlichen, graugrünen Farbton schimmerte. Etwa in seiner Mitte erhob sich ein buckeliger, flacher Turm, zu dem eine Anzahl eiserner Leitersprossen emporführten. Zwei große, runde Fenster aus gewölbtem Glas vermittelten den Eindruck starrender Fischaugen, und wie um diese Ähnlichkeit noch zu betonen, hatte das Schiff eine gewaltige, senkrecht wie die Finne eines Wales in die Höhe ragende Heckflosse. Der Bug endete in einem langen, mit metallenen Kanten und Klingen versehenen Sporn, wie die natürliche Waffe eines übergroßen Sägefisches, und vom Bug bis zum Heck des Schiffes zog sich ein stählerner Stachelkamm. Das riesige Gefährt ähnelte viel weniger einem Schiff als einem bizarren Urweltungeheuer, das nach Jahrmillionen zu neuem Leben auferstanden war.
Mike hatte keine Fragen mehr. Es gab nichts, was Singh oder Trautman hätten erklären müssen. Er kannte jetzt das Geheimnis der Vergessenen Insel. Er hatte es im selben Moment begriffen, in dem sein Blick auf die fast mannshohen Buchstaben fiel, in denen der Name des Schiffes an seinem Bug stand:
NAUTILUS
Obwohl im Moment vielleicht nichts so kostbar war wie Zeit, schwiegen Singh und Trautman geduldig, bis Mike den Schock, den ihm der Anblick des Tauchbootes bereitet hatte, so weit überwand, um langsam weiterzugehen. Eine steile, geländerlose Treppe führte in die Tiefe, bei deren Anblick allein Mike normalerweise schwindelig geworden wäre. Jetzt bemerkte er den Abgrund nicht einmal, der neben ihm gähnte.
Auch als er näher kam, verlor das Schiff nichts von seiner unheimlichen Faszination. Im Gegenteiclass="underline" Mike konnte sich einfach nicht satt sehen. Er hatte immer mehr das Gefühl, einem Etwas gegenüberzustehen, das zwar künstlich erschaffen, trotzdem aber mehr als nur eine Maschine war. Er konnte nicht sagen, was es war, was er empfand. Das Gefühl, das der Anblick der NAUTILUS in ihm auslöste, war zu gewaltig, um es in Worte zu fassen. Endlich, nach Minuten, wurde das fast ehrfürchtige Schweigen gebrochen.
»Die NAUTILUS!« flüsterte Paul. »Es ... es gibt sie wirklich. Dann ist alles wahr, was man sich erzählt. Die ... die ganzen Geschichten sind wahr!«
Mike löste widerstrebend seinen Blick von dem Unterseeboot und wandte sich zu Paul um. Er und die anderen waren ihm gefolgt, aber in einiger Entfernung stehengeblieben, und jeder reagierte auf andere Weise auf den Anblick des Schiffes: erstaunt, ungläubig, erschrocken oder entsetzt. Einzig Chris schien gar nicht zu begreifen, was er da sah.
Plötzlich erinnerte sich Mike wieder an den Schrecken, mit dem Paul reagiert hatte, als Mike das erste Mal seinen wirklichen Namen hörte. »Du hast das gewußt, nicht wahr?« fragte er. »Dein Vater hat dir gesagt, was wir auf dieser Insel finden.«
»Nein!« Pauls Stimme klang erschrocken. »Kein Wort, das schwöre ich! Aber ... aber jeder hat doch schon von Kapitän Nemo und der NAUTILUS gehört. Du doch auch!«
Das stimmte. Wer hätte nicht von dem phantastischen, unbesiegbaren Unterseeboot gehört, mit dem der sagenumwobene Kapitän Nemo die Weltmeere befahren hatte?
»Ich habe es für eine Legende gehalten«, fuhr Paul fort. Seine Stimme zitterte, und sein Blick irrte unstet über den Rumpf der NAUTILUS. »Wir alle haben das! Niemand hat geglaubt, daß dieses Schiff wirklich existiert!«
»Euer Vater hat dafür gesorgt, daß es so ist«, fügte Singh hinzu. »Es war seine letzte Tat. Nachdem er die NAUTILUS zu dieser Insel gebracht hat, verließ er sie noch einmal und sorgte dafür, daß aus den Geschichten um die NAUTILUS Legenden wurden. Es war nicht sehr schwer, glaube ich. Die Menschen sind nur zu schnell bereit, das, war sie nicht verstehen können, als Märchen abzutun.«
»Deshalb ist Winterfeld also auf dem Weg hierher«, murmelte Miß McCrooder. Die Worte waren an niemanden Bestimmten gerichtet. Sie schien mit sich selbst zu sprechen. Langsam ging sie an Paul und den anderen vorbei und näherte sich dem Schiff. Sie war bleich. »Er muß geahnt haben, was er hier finden würde. O Gott. Mit diesem Schiff wäre er ... unbesiegbar!«
»Er könnte die Welt beherrschen«, bestätigte Singh.
»Oder zerstören«, fügte Trautman leise hinzu.
Miß McCrooder wandte mit einem Ruck den Kopf und starrte ihn an. »Das meinen Sie nicht ernst!« sagte sie. »Ich meine, es ... es ist ein gewaltiges Schiff, aber doch nicht mehr!«