»Ich fürchte, Sie irren sich, Mylady«, sagte Trautman. »Im Vollbesitz seiner Kräfte wäre dieses Schiff unbesiegbar. Niemand könnte es aufhalten oder zerstören. Nemo hat seine Möglichkeiten niemals völlig genutzt, denn er erkannte, welche Gefahr es darstellt. Schließlich brachte er die NAUTILUS hierher und sorgte dafür, daß sie die Insel nie wieder verlassen konnte.«
»Moment mal«, sagte Ben. »Soll das heißen, wir können nicht damit von hier verschwinden?«
»Mit der NAUTILUS?« Trautman schüttelte lächelnd den Kopf. »Wäre es so, hätte ich euch niemals hierhergebracht.« Er deutete auf das Wasser vor dem Schiff. »Der Tunnel, der zu dieser Höhle führt, ist verschüttet. Nemo sprengte ihn, bevor er die Insel endgültig verließ. Ein gewaltiger Felsen blockiert den Eingang. Ihr hättet ihn eigentlich sehen müssen. Es ist das einzige Riff, das die Wasseroberfläche auf dieser Seite der Insel durchbricht.«
»Aber wenn man ihn wegschaffen könnte -«
Trautman unterbrach ihn. »Das ist unmöglich. Wir würden Tonnen von Sprengstoff benötigen. Und Zeit. Wir haben keines von beiden.«
»Dann ist alles verloren«, sagte Ben düster. »Winterfeld ist in spätestens zwei Stunden hier. Er wird das Schiff finden.«
»Nein«, antwortete Trautman, »das wird er nicht. Das Geheimnis dieses Schiffes darf niemals wieder in die Hände eines einzelnen Menschen fallen. Die Macht, die die NAUTILUS darstellt, ist zu gewaltig.«
»Na prima«, sagte Ben. »Und was wollen Sie tun? Sie schwarz anmalen, damit er sie nicht findet, oder schnell die Tür zumauern?«
»Ich werde tun, was Kapitän Nemo mir befohlen hat«, sagte Trautman ernst. »Was ich schon längst hätte tun sollen.« Er sah Singh an, und obwohl keiner von beiden etwas sagte, ja nicht einmal eine Miene verzog, spürte Mike doch ganz deutlich, daß Trautman dem Sikh eine Frage stellte und dieser sie auf die gleiche, lautlose Weise beantwortete. Nach einer Weile wandte sich Trautman schweigend um und ging auf eine Tür in der Wand zu. Sie war so wuchtig und schwer wie die eines Geldschrankes, und Trautman brauchte all seine Kraft, um sie zu öffnen.
»Was hat er vor?« fragte Ben mißtrauisch, nachdem der alte Mann verschwunden war.
Singh antwortete nicht, auch als Mike die Frage wiederholte. So verging sicher eine Minute, bis Singh mit einem Seufzen aus seiner sonderbaren Erstarrung erwachte und die Hand hob. »Wir müssen gehen«, sagte er.
»Er wird die NAUTILUS zerstören, nicht wahr?« fragte Mike leise.
Singhs Antwort bestand nur aus einem angedeuteten Nicken.
»Aber das ist doch Wahnsinn!« begehrte Ben auf. »Das ... das ist das phantastischste Schiff, das es jemals auf der Welt gegeben hat! Wenn auch nur die Hälfte von dem stimmt, was man sich darüber erzählt, dann ist es -«
»Eine Waffe«, fiel ihm Mike ins Wort. »Die furchtbarste Waffe, die man sich nur vorstellen kann.«
Ben starrte ihn verständnislos an, aber auf Singhs Lippen erschien ein dankbares Lächeln. »Ich habe gehofft, daß Ihr so denkt«, sagte er. »Ihr seid also damit einverstanden, daß wir sie zerstören?«
»Würde es etwas ändern, wenn ich es nicht wäre?« fragte Mike.
»Nein«, antwortete Singh offen. »Aber ich bin trotzdem froh, daß Ihr Euch so und nicht anders entschieden habt.«
»Ihr beide müßt verrückt sein!« protestierte Ben. »Ihr habt nicht das Recht, das Schiff zu zerstören. Es gehört euch nicht! Es gehört -«
»Wem?« fiel ihm Mike ins Wort. »Deinen Leuten? Den Franzosen? Den Deutschen? Den Indern? Welcher Nation willst du dieses Schiff ausliefern? Wer, glaubst du, wäre am besten dazu geeignet, die Welt zu beherrschen?«
Für einen Moment war Ben verwirrt und etwas erschrocken. Dann machte er eine ärgerliche Bewegung mit beiden Händen. »Unsinn«, sagte er. »Es ist nur ein Schiff. Ganz egal, wie stark es ist, niemand kann damit die ganze Welt beherrschen.«
»Die NAUTILUS allein reicht dazu nicht aus«, antwortete Mike. »Aber das Wissen, das sie bedeutet. Glaubst du denn, sie würden sich damit zufriedengeben, sie zu bewundern oder in ein Museum stellen? Ich will dir sagen, was sie tun werden: Ganze Heerscharen von Wissenschaftlern und Ingenieuren würden über sie herfallen und ihr nach und nach alle Geheimnisse entreißen. Und sie würden sie mißbrauchen, um neue Waffen und neue Kriegsmaschinen zu konstruieren. Mein Vater hat das gewußt, und deshalb hat er das Schiff hierher gebracht!«
»Aber er hat es nicht zerstört!« beharrte Ben.
»Nein. Aber er hat ganz bestimmt nicht gewollt, daß es in die Hände machthungriger Verrückter fällt!« antwortete Mike heftig. Er ließ ganz bewußt offen, ob er damit nun Winterfelds oder Bens Leute meinte.
»Das Schiff muß zerstört werden«, sagte er noch einmal schweren Herzens. Dabei erfüllte ihn der Gedanke mit Entsetzen. Dieses unglaubliche Schiff hatte all die Jahre hindurch hier gelegen und auf ihn gewartet - nur damit er kam und den Befehl zu seiner Zerstörung gab. Doch es mußte sein. Und wahrscheinlich war es gut, daß er diese Entscheidung so schnell treffen mußte, denn er war gar nicht sicher, daß sie genauso ausgefallen wäre, hätte er Zeit gehabt, darüber nachzudenken. Er glaubte plötzlich zu verstehen, warum sein Vater die NAUTILUS nicht zerstört hatte. Das Schiff stellte nicht nur eine ungeheuerliche Macht, sondern auch eine ebenso große Verlockung dar. Mike war nicht sicher, daß er ihr wirklich widerstehen konnte, wenn er ihr lange ausgesetzt war. Vielleicht konnte das niemand.
»Also los«, sagte er. »Gehen wir.«
»Wohin denn?« fragte Ben. »Wollt ihr vielleicht nach Hause schwimmen?«
»Winterfeld wird euch nach Hause bringen«, sagte Singh.
»Winterfeld?« Ben kreischte fast. »Bist du verrückt? Er wird uns umbringen!«
»Das wird er nicht«, antwortete Mike an Singhs Stelle. »Wenn die NAUTILUS zerstört ist, gibt es keinen Grund mehr für ihn, uns gefangenzuhalten.«
»Er kann es sich gar nicht leisten, uns laufenzulassen«, widersprach Ben. »Immerhin hat er uns entführt und auf uns geschossen. Wir würden alles erzählen.«
»Und wer würde uns glauben?« fragte Mike ruhig. Er deutete auf das Schiff. »Glaubst du wirklich, ein Mensch auf der Welt würde uns glauben, was wir hier gefunden haben?« Er schüttelte entschieden den Kopf. »Und selbst wenn - Winterfeld ist vielleicht unser Feind, aber kein Mörder.«
Er wandte sich an Singh. »Was ist mit Trautman?«
»Er bleibt hier«, antwortete der Sikh.
Mike empfand ein Gefühl tiefer Trauer, aber er sagte nichts. Die NAUTILUS war alles für Trautman gewesen. Während der letzten fünfzehn oder vielleicht auch mehr Jahre hatte sein Leben keinen anderen Sinn gehabt, als den, über das Schiff zu wachen. Wenn es die NAUTILUS nicht mehr gab, dann hatte auch sein Leben jeden Inhalt verloren.
»Willst du dich nicht von ihm verabschieden?« fragte er.
Singh sah schweigend zu der Tür, hinter der Trautman verschwunden war. Dann schüttelte er den Kopf. »Das ist nicht nötig«, sagte er. »Ich glaube auch nicht, daß er das will.«
»Mir kommen gleich die Tränen«, sagte Ben. »Ihr zwei müßt vollkommen übergeschnappt sein, wißt ihr das? Habt ihr überhaupt eine Ahnung, welchen Schatz ihr da vernichten wollt?«
Mike antwortete nicht darauf. »Gehen wir«, sagte er nur.
Sie wandten sich um und bewegten sich schweigend auf die Treppe zu, doch nach ein paar Schritten blieb André plötzlich stehen und fragte: »Wo ist Miß McCrooder?«
Auch Mike hielt inne und sah sich überrascht um, und noch bevor er sich selbst davon überzeugen konnte, daß Miß McCrooder tatsächlich nicht mehr bei ihnen war, sagte Ben: »Viel interessanter finde ich die Frage: Wo ist Paul?«
Einige Sekunden lang sagte niemand ein Wort. Mike suchte jeden Winkel und jeden Schatten mit Blicken ab. Schließlich fuhr Ben fort: »Dein Freund ist abgehauen. Wahrscheinlich ist er längst unterwegs zu seinem Vater, um ihm den Weg hierher zu zeigen!«