Kapitän Winterfeld runzelte bei diesen Worten die Stirn, schwieg aber. Allein die Tatsache, daß Hieronymus Winterfeld - der immerhin ein hoher deutscher Marineoffizier war - seinen Sohn auf ein englisches Internat schickte, bewies zweifelsfrei, wie sehr er seine privaten Dinge von politischen Rücksichtnahmen zu trennen wußte. Aber er blieb trotz allem ein deutscher Offizier, und selbst Mike, der sich nicht die Bohne um Politik kümmerte, war nicht verborgen geblieben, wie angespannt die Lage in Europa war. Während der letzten Monate hatte sich das Verhältnis zwischen Deutschland und Österreich auf der einen und so ziemlich dem ganzen Rest Europas auf der anderen Seite drastisch verschlechtert. Man munkelte sogar von Krieg, aber das hielt Mike für übertrieben.
»Das tut mir sehr leid«, sagte Winterfeld weich. »Ich weiß, wie das ist, ich bin ebenfalls in einem Internat gewesen, weißt du? Und die Vorstellung, auch noch die wohlverdienten Ferien dort verbringen zu müssen...« Er schüttelte den Kopf. »Hast du sonst keine Verwandten, zu denen du gehen könntest?«
»Nein«, antwortete Mike. Der europäische Zweig seiner Familie war mit seiner Mutter ausgestorben; das wußte er von seinem Vormund.
»Mike ist nicht ganz allein«, sagte McIntire. »Außer ihm werden noch vier weitere Schüler hierbleiben, und es gibt ja auch noch mich und einen Teil des Lehrpersonals, das Weihnachten und Neujahr auf Andara-House verbringt.«
Leider, fügte Mike in Gedanken hinzu, zwang sich aber gleichzeitig zu einem Lächeln und sagte: »Es sind ja nur drei Wochen.«
»Drei Wochen können eine Ewigkeit sein«, sagte Winterfeld. Ein nachdenklicher Ausdruck erschien auf seinen Zügen. »Vielleicht gäbe es da doch noch eine Möglichkeit«, meinte er etwas unschlüssig.
»Welche?« fragte McIntire.
»Nun, es ist ungewöhnlich, aber...« Er zögerte einen Moment, dann sprach er weiter. »Michael könnte uns begleiten. Wenigstens für ein paar Tage.«
Mike horchte auf, und McIntire legte den Kopf schräg und die Stirn in Falten, wodurch er ein wenig wie ein überraschter Dackel aussah, ohne jedoch die natürliche Freundlichkeit dieser kleinen Hunde auszustrahlen. »Wie meinen Sie das?«
»Nun, des einen Leid ist des anderen Freud, das wissen Sie ja«, antwortete Winterfeld. »An sich hatte ich vor, Paul gleich mit nach Hause zu nehmen. Aber wie es scheint, werden auch wir zumindest die Weihnachtstage noch auf Ihrer freundlichen Insel verbringen. Die LEOPOLD liegt mit einem Maschinenschaden im Hafen, und wie mir mein Erster Ingenieur versicherte, wird die Reparatur mindestens sechs Tage in Anspruch nehmen. Wenn Michael es möchte und Sie einverstanden sind, selbstverständlich, dann könnte er Paul und mich begleiten und an Bord des Schiffes bleiben, bis wir auslaufen.«
Mike riß erstaunt Mund und Augen auf. Aus seiner gerade noch abgrundtiefen Betrübnis wurde ein himmelhohes Jauchzen, das allerdings sofort wieder einen kräftigen Dämpfer bekam, als er McIntire ansah. Das Stirnrunzeln des Direktors zeigte, daß er wenig begeistert von Winterfelds Vorschlag war. Schließlich war Hieronymus Winterfeld Soldat und die LEOPOLD ein Kriegsschiff. Sein Vorschlag verstieß wahrscheinlich gegen so ziemlich jede Regel, die McIntire kannte, und wahrscheinlich auch gegen alle, die er nicht kannte.
»Ich bin nicht ganz sicher, ob...« begann McIntire, aber Winterfeld unterbrach ihn sofort.
»Ich übernehme natürlich die volle Verantwortung«, sagte er. »Und es besteht wirklich kein Grund zur Sorge. Wie gesagt: die LEOPOLD liegt manövrierunfähig im Hafen, und ich verbürge mich dafür, daß Michael sicher wieder zurückgebracht wird, bevor wir auslaufen.«
»Ich zweifle nicht an Ihrem Wort, Kapitän Winterfeld«, antwortete McIntire hastig. »Es ist nur...« Er räusperte sich, dann gab er sich einen Ruck und fuhr ein wenig fester fort: »Ich will ganz ehrlich sein: Die Lage ist nicht nur in Indien gespannt. Ich bin nicht sicher, ob es wirklich klug ist, wenn sich Mike im Moment an Bord eines deutschen Kriegsschiffes begibt.«
»Sir, ich bitte Sie!« sagte Winterfeld kopfschüttelnd. »Ich weiß ja nicht, was die Zeitungen hier in Großbritannien für einen Unsinn verbreiten, aber wenn er auch nur halb so groß ist wie der, den sie bei uns schreiben, dann kann ich Sie beruhigen. Weder das Deutsche Kaiserreich noch Österreich-Ungarn tragen sich im Moment mit dem Gedanken an Krieg. Und ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, daß es Ihrem King anders ergeht. Immerhin leben wir im zwanzigsten Jahrhundert.«
»Was nichts daran ändert, daß die LEOPOLD ein Kriegsschiff ist.«
Kapitän Winterfeld nahm die Worte gar nicht zur Kenntnis. »Und außerdem«, fuhr er unbeeindruckt fort, »bin ich nicht als Kapitän der Kaiserlichen Kriegsmarine hier, sondern als Vater eines Ihrer Schüler.«
McIntire wirkte noch immer unentschlossen, und Mikes Herz begann vor Aufregung immer schneller zu klopfen. McIntire mußte einfach ja sagen. Nach Winterfelds überraschendem Angebot würde er eine weitere Enttäuschung nicht überleben, da war er ganz sicher.
»Ich mache Ihnen einen Vorschlag«, sagte Winterfeld. »Wenn ich mich nicht irre, wird der Schulbetrieb mit dem heutigen Abend sowieso eingestellt. Ich lade Sie, Michael und die vier anderen Schüler, von denen Sie erzählten, zu einem Besuch auf meinem Schiff ein. Sie können sich mit eigenen Augen davon überzeugen, daß die Jungen dort sicher sind.«
»Ist das denn gestattet?« fragte McIntire überrascht.
Winterfeld schüttelte den Kopf und grinste plötzlich so breit wie ein Schüler der dritten Klasse, der beobachtet, wie sein Lehrer sich auf den Schwamm setzt, den er auf seinen Stuhl gelegt hat. »Betrachten Sie es als einen Akt der Völkerverständigung«, sagte er. »In einer Zeit wie dieser können auch kleine Gesten große Dinge bewirken - und für Michael und die vier anderen ist es wenigstens ein kleiner Trost.«
McIntire zögerte noch immer, aber Mike spürte, daß sein Widerstand mit jeder Sekunde weiter bröckelte. Vermutlich fand auch er selbst die Vorstellung äußerst verlockend, Winterfelds mächtiges Kriegsschiff aus der Nähe sehen zu können. Mike selbst wurde allein bei dem Gedanken schon fast schwindelig. Paul hatte ihm genug von der LEOPOLD erzählt, um ihn ganz kribbelig werden zu lassen. Welchem Jungen in seinem Alter hätte auch nicht das Herz höher geschlagen bei dem Gedanken, ein paar Tage auf einem richtigen Kriegsschiff zu verbringen? McIntire mußte einfach ja sagen!
Und er tat es. »Also gut«, sagte er. Er drehte sich zu Mike herum. »Ich nehme die Einladung für mich und die Jungen an.«
»Prima«, sagte Winterfeld aufgeräumt, »dann schicke ich morgen früh einen Wagen. Sagen wir um neun Uhr?« wandte er sich an McIntire.
Mike war über diese unerwartete erfreuliche Wendung der Dinge so aufgeregt, daß er vergaß, sich bei Pauls Vater zu bedanken. Sein Herz klopfte noch immer heftig, als Paul und sein Vater gegangen waren und er wieder in sein Zimmer zurückkehrte.
Daß er in diesem Jahr nicht nach Indien reisen konnte, erwies sich plötzlich als unerwarteter Glücksfall. Indien, so gern er seine Heimat mochte, lief ihm nicht davon, wohl aber vielleicht die LEOPOLD.
Er erreichte sein Zimmer, trat ein - und blieb an der Tür stehen.
Irgend etwas war nicht so, wie es sein sollte.
Aufmerksam sah er sich im Zimmer um. Auf den ersten Blick schien alles zu sein wie vorhin, aber dann gewahrte er doch eine Anzahl kleiner Veränderungen: eine Schublade des Schreibtisches war aufgezogen und nicht wieder völlig geschlossen worden, so daß ihre Kante einen Zentimeter über die Front des Möbels herausragte, der Brief lag ein wenig anders da als vorhin. Auf dem Regal über seinem Bett hatten zwei Bücher seit Wochen auf dem Kopf gestanden, jetzt standen sie richtig herum.