Singh unterbrach seine Rede, als Mike und die anderen hereinkamen. Ein einziger Blick in seine Augen reichte Mike, um zu wissen, daß er nicht mehr rechtzeitig gekommen war.
»Zu spät!« stellte er fest.
Singh nickte. »Um eine Minute. Der Zerstörungsmechanismus ist in Gang gesetzt, und keine Macht der Welt kann ihn jetzt noch aufhalten.«
Ein eisiges Frösteln lief über Mikes Rücken. Er wandte sich zur NAUTILUS um und ließ seinen Blick über die schimmernden Panzerplatten ihres Rumpfes gleiten. Sie lag unverändert und unbeschädigt vor ihnen, und für einen Moment weigerte er sich einfach, Singhs Worte zu glauben.
»Dann sollten wir nicht hier rumstehen, sondern verschwinden, ehe uns das ganze Schuf um die Ohren fliegt«, sagte Ben schließlich. »Wieviel Zeit bleibt uns?«
»Zwei Stunden«, antwortete Trautman. »Vielleicht drei, aber auf keinen Fall mehr.«
»Worauf warten wir dann noch?« fragte Ben.
Singh seufzte. Er schloß die Augen, ballte die Hände zu Fäusten und atmete tief ein, ehe er antwortete: »Es ist nicht die NAUTILUS, die zerstört wird, Ben.«
»Nicht die NAUTILUS?« Ben blinzelte. »Aber was denn -«
»Die ganze Insel wird untergehen«, sagte Trautman.
»Die ... ganze Insel?« stammelte Ben. »Was zum Teufel soll das heißen? Das ist doch unmöglich!«
»Das ist es nicht«, sagte Trautman ernst. Er machte eine weit ausholende Geste. »Diese Insel ist der Gipfel eines unterseeischen Vulkans. Er ist erloschen, schon vor Tausenden von Jahren, und sein Krater hat sich mit Wasser gefüllt. Aber tief unter unseren Füßen ist seine Glut noch so heiß wie am ersten Tag.«
»Und?« fragte Ben. Seine Stimme schwankte. »Was hat das mit der NAUTILUS zu tun?«
Trautman wandte sich direkt an Mike. »Dein Vater sah eine Gefahr wie diese voraus. Die NAUTILUS nur zu versenken hätte wenig Sinn. Sie würden sie heben, ganz egal, wie lange es dauert. Und selbst ihr Wrack stellt noch eine ungeheure Gefahr dar. Also ließ er tiefe Schächte bohren, Schächte, die bis zum Lavakern der Insel hinabreichen.« Er schwieg kurz. Dann fuhr er leise fort: »Ich habe diese Schächte geöffnet. Das Wasser des Meeres wird in die Tiefe fließen und mit der Lava zusammentreffen. Die Dampfexplosion wird die ganze Insel vernichten.«
»Aber das ... das ist doch Wahnsinn!« krächzte Ben. »Ihr seid doch alle verrückt!«
»Die Zeit hätte gereicht«, verteidigte sich Singh. »Zwei Stunden sind mehr als genug, um zur LEOPOLD zurückzukehren und Winterfeld zu warnen. Niemand konnte ahnen, daß das Schiff nicht mehr da sein würde.«
»Sie müssen es aufhalten!« verlangte Ben. »Das darf nicht geschehen. Sie müssen ... irgend etwas tun. Schalten Sie es ab.«
»Das kann ich nicht, Junge«, sagte Trautman traurig. »Niemand kann das jetzt noch.«
»Was ist mit der NAUTILUS?« fragte Mike.
Trautman runzelte die Stirn. »Was soll damit sein?«
»Ich meine: Ist sie in Ordnung?« fragte Mike. »Ist sie seetüchtig?«
»Wir könnten versuchen, damit zu fliehen«, nahm Juan den Gedanken auf.
»Das ist unmöglich«, antwortete Trautman. »Ich habe es euch doch gesagt. Der Kanal ist versperrt. Wir kämen niemals hier heraus, selbst wenn wir das Schiff flottbekommen. Und ich bin nicht sicher, daß es mir gelingt. Immerhin hat sie sich seit zwanzig Jahren nicht mehr bewegt.«
»Aber es ist eine Chance!« beharrte Mike. »Vielleicht ... vielleicht können wir den Felsen einfach beiseiteschieben. Dieses Schiff ist ungeheuer groß!«
»Der Felsen ist größer«, antwortete Trautman ruhig. »Nicht einmal die NAUTILUS kann einen Berg zur Seite schieben. Wir würden umkommen.«
»Hier kommen wir auf jeden Fall um!« sagte Juan. Er deutete auf Mike. »Er hat recht. Ich bin auch dafür, es wenigstens zu versuchen. Wo ist der Unterschied, ob wir dabei getötet werden oder hier warten, bis die ganze Insel explodiert?«
Trautman schwieg.
»Bitte, Trautman! Vielleicht ... vielleicht sprengt der Vulkanausbruch den Felsen weg, ehe der ganze Tunnel über uns zusammenbricht. Ich weiß, das ... das ist eine verzweifelte Hoffnung. Vielleicht haben wir nur eine Chance von eins zu hundert, aber das ist immer noch mehr, als wir hier haben.«
»Ich würde Tage brauchen, um das Schiff seetüchtig zu machen«, antwortete Trautman. »Ganz davon abgesehen, daß die NAUTILUS eine ausgebildete Besatzung braucht. Wahrscheinlich würden wir einfach sinken, selbst wenn es uns gelänge, die Insel zu verlassen.«
»Dann sinken wir eben!« sagte Mike; nein - er schrie es fast. Er war der Verzweiflung nahe. »Trautman, das ist unsere einzige Chance! Bitte!«
Einige Sekunden vergingen, ohne daß Trautman antwortete. Er blickte Mike nur an, und in seinem Gesicht rührte sich kein Muskel. Aber Mike konnte den lautlosen Kampf, der sich in ihm abspielte, deutlich in seinen Augen lesen. Und schließlich nickte Trautman. »Also gut«, sagte er. »Versuchen wir es.«
Die zwei Stunden, von denen Trautman gesprochen hatte, waren nahezu vorbei. Die Insel war nicht mehr ruhig. Das Vibrieren und Zittern des Bodens, über dessen wahre Bedeutung sich Mike im ersten Moment so völlig getäuscht hatte, hatte zugenommen. Das Wasser, in dem die NAUTILUS lag, zitterte und wogte ununterbrochen, und manchmal lösten sich Steine und kleinere Felsbrocken von der Decke und fielen zu Boden. Wenn sie die NAUTILUS trafen, dröhnte der gewaltige stählerne Leib des Schiffes wie unter einem Kanonenschuß. Vor einigen Minuten hatte sich ein Brocken aus der Decke gelöst, der groß genug gewesen wäre, selbst das mächtige Schiff zu beschädigen. Er hatte die NAUTILUS verfehlt und nur ein gewaltiges Stück aus dem Felsenufer gebissen, aber Mike hatte die Warnung verstanden. Ihre Zeit lief ab.
Sie hatten sich im Turm der NAUTILUS versammelt, und Trautmans Hände umschlossen das große Steuerrad so fest, als wolle er es zerbrechen. Es war sehr eng in der kleinen Kammer, die eigentlich nur für den Steuermann und höchstens noch einen Assistenten gedacht war, aber niemand machte auch nur den Vorschlag, hinunter in das Schiff zu steigen, wo Platz für hundert oder mehr Menschen gewesen wäre.
Mike spürte eine sonderbare Erregung, die nichts mit der Furcht vor dem, das sie erwarten mochte, zu tun hatte. Er kam sich immer mehr wie in einem Traum gefangen vor. Vor wenigen Stunden noch hatte er nicht einmal gewußt, daß es dieses Schiff gab, und nun erwachte die NAUTILUS unter Trautmans Händen wieder zum Leben. Und selbst, wenn sie es nur tat, um in wenigen Minuten endgültig zerstört zu werden - es war ein erhebendes Gefühl, das mit Worten kaum zu beschreiben war.
Während der letzten beiden Stunden hatten sie die NAUTILUS von einem Ende zum anderen durchstreift und unter Trautmans und Singhs Anleitung Tausende von Dingen getan, die sie zum größten Teil nicht einmal begriffen. Aber das Wunder, das keiner von ihnen ernsthaft zu erhoffen gewagt hatte, war geschehen: So alt und verstaubt, wie das Schiff war, es war mit jedem Hebel, den sie umlegten, jedem Schalter, den sie betätigten, jedem Ventil, das sie öffneten, ein Stückchen mehr zum Leben erwacht, und jetzt erfüllte das unheimliche Summen und Stampfen der gewaltigen Motoren den Rumpf wie das Wispern unsichtbarer elektrischer Geister. Nach mehr als zwanzig Jahren war die NAUTILUS wieder aus ihrem Dornröschenschlaf erwacht, um noch einmal in See zu stechen. Vielleicht zum letzten Mal.
Das Summen der Motoren wurde ein wenig lauter, und etwas änderte sich im Takt der Wellen, die gegen den stählernen Rumpf der NAUTILUS schlugen. Mikes Herz begann zu hämmern.
Langsam, wie ein großes, eisernes Tier, das aus einem tiefen Schlaf erwachte und nur allmählich seine Kräfte wieder zu entdecken begann, setzte sich die NAUTILUS in Bewegung. Trautman betätigte einen Schalter, und an ihrem Bug flammte ein gewaltiger Scheinwerfer auf, der den Tunnel vor ihnen erhellte. Mike sah, daß sich die Decke des Stollens vor ihnen senkte, bis sie in einer Entfernung von zwei- oder dreihundert Metern beinahe das Wasser berührte. Irgendwo, noch viel, viel weiter entfernt, schimmerte ein winziger Fleck Tageslicht.