»Findest du nicht, daß du dich jetzt wenigstens entschuldigen könntest?« fragte Juan.
Die Worte galten Ben, der zusammen mit ihnen auf das Deck der NAUTILUS hinausgetreten war. Vielleicht zum ersten Mal, solange Mike den Engländer kannte, sah er ihn ein wenig in Verlegenheit.
Der Tag neigte sich seinem Ende entgegen. Im Osten kroch bereits die Dämmerung über den Horizont, aber es war der bizarrste Sonnenuntergang, den Mike jemals erlebt hatte - der Himmel färbte sich rot, aber es war ein Leuchten, das aus dem Wasser emporstieg. Die Insel war auseinandergebrochen und im Meer versunken, nicht einmal eine Viertelstunde, nachdem sie den Tunnel verlassen und beobachtet hatten, wie auch die LEOPOLD hastig beidrehte und sich aus der Gefahrenzone brachte, doch das Feuer schien unter der Meeresoberfläche weiterzubrennen. Selbst hier, in einer Entfernung von sicherlich zwanzig Meilen, spürten sie noch einen warmen Hauch, der mit dem Wind herantrieb. Die Gewalten, die Trautman entfesselt hatte, hatten sich noch lange nicht wieder beruhigt.
»Komm schon«, fuhr Juan fort, »benimm dich ausnahmsweise wie ein Mann.«
Ben biß sich auf die Lippen und starrte finster zu Boden. Paul war bereits in das kleine Boot gestiegen, das in einer entsprechenden Vertiefung am Heck der NAUTILUS vertäut war, und eigentlich gab es keinen Grund mehr für ihn, zu warten. Mike warf einen Blick nach Westen und stellte fest, daß die LEOPOLD nicht mehr sehr weit entfernt war. Sie lief mit voller Kraft auf sie zu und würde sie in spätestens zehn Minuten eingeholt haben. Aber dann würden sie nicht mehr an dieser Stelle sein.
»Nun mach schon«, sagte, auch André. »Wenn er nicht bei uns gewesen wäre, wären wir vielleicht alle tot.«
»Ich weiß«, murrte Ben widerwillig. »Also gut: Es tut mir leid. Ich habe mich wie ein Idiot benommen.«
Paul sah überrascht drein, als Ben plötzlich auf ihn zutrat und die Hand ausstreckte.
»Entschuldige«, sagte Ben. »Ich habe mich getäuscht.« Plötzlich grinste er über das ganze Gesicht und fügte hinzu: »Aber ich traue dir noch immer nicht.«
Paul sah eine Sekunde lang ziemlich hilflos drein und begann dann schallend zu lachen. Ben und die anderen stimmten in dieses Lachen ein, und schließlich trat Ben zurück, um Mike Platz zu machen. Auch die drei anderen Jungen zogen sich einige Schritte weit zurück, damit die beiden sich voneinander verabschieden konnten.
Mike trat zu seinem Freund, aber plötzlich fielen ihm die Worte, die er sich doch so sorgsam zurechtgelegt hatte, nicht mehr ein. Er konnte nichts anderes tun, als einfach dazustehen und Paul anzusehen, und auch Paul schien es nicht anders zu ergehen. Ein Abschied war immer eine schwierige Sache - aber dieser Abschied tat weh.
»Du ... du willst es dir nicht noch einmal überlegen und bei uns bleiben?« fragte er schließlich.
Ein Schatten huschte über Pauls Gesicht. »Das geht nicht, Mike«, sagte er. »Mein Vater würde nicht aufgeben, bis er mich gefunden hat. Und außerdem gehöre ich zu ihm.«
Pauls Vater hatte aus dem einzigen Grund alle seine Befehle ignoriert und der NAUTILUS dabei geholfen, die Insel zu verlassen, statt sie zu kapern oder zu versenken, weil er seinen Sohn an Bord des Schiffes wußte, und er würde um nichts in der Welt zulassen, daß sie ihn mit sich nahmen. Und der wichtigste Grund war genau der, den Paul ihm genannt hatte: er gehörte dorthin, nicht zu ihnen. Wo immer sie hingehen mochten. Plötzlich spürte Mike einen harten, bitteren Kloß im Hals. Das Sprechen fiel ihm schwer.
»Dann verschwinde jetzt«, sagte er. »Und grüße deinen Vater von mir. Wenn er nicht gewesen wäre, wären wir jetzt wahrscheinlich alle tot.«
»Er wird nicht aufgeben, euch zu jagen«, sagte Paul.
»Ich weiß«, antwortete Mike. »Aber wir passen schon auf uns auf. Vielleicht sehen wir uns ja eines Tages wieder.«
Paul antwortete nicht, sondern drehte sich nach einigen Sekunden wortlos herum, löste das Tau, das das kleine Schiffchen hielt, und stieß sich an der Bordwand ab. Mike sah ihm nach, bis das Boot zu einem kleinen Punkt auf den Wellen geworden war, der immer weiter zusammenschrumpfte.
Plötzlich bemerkte er, daß Paul nicht auf die LEOPOLD zuhielt, wie sie verabredet hatten, sondern einen Kurs einschlug, der nahezu im rechten Winkel von der NAUTILUS wegführte; ein letzter Freundschaftsdienst, den Paul ihnen erwies, denn auf diese Weise war sein Vater gezwungen, den Kurs seines Schiffes zu ändern, um seinen Sohn aufzufischen, was ihnen einen weiteren Vorsprung verschaffte. Mike lächelte dankbar. Vielleicht würde er Paul nie wiedersehen, aber er wußte, daß sie für den Rest ihres Lebens Freunde bleiben würden, ganz egal, was geschah. Und das war vielleicht das Wertvollste, das es auf der ganzen Welt gab.
Wolfgang Hohlbein, geboren in Weimar, lebt heute mit seiner Familie in der Nähe von Düsseldorf. Für sein Erstlingswerk »Märchenmond«, ein phantastischer Roman, den er gemeinsam mit seiner Frau Heike schrieb, erhielt er 1982 den ersten Preis des vom Verlag Ueberreuter veranstalteten Wettbewerbs zum Thema Science Fiction und Phantasie.
Außerdem erhielt dieser Titel 1983 den »Phantasie-Preis der Stadt Wetzlar« und den »Preis der Leseratten«.
In der Reihe »Kapitän Nemos Kinder« erschienen:
Das Mädchen von Atlantis
Die Herren der Tiefe
Im Tal der Giganten
Weitere Bände in Vorbereitung
Von Wolfgang und Heike Hohlbein erschienen:
Märchenmond
Märchenmonds Kinder
Elfentanz
Midgard
Drachenfeuer
Der Greif
Spiegelzeit
Unterland
Die Prophezeiung
Die Bedrohung