Dann sah er, daß sein Schrank halb offenstand. Er selbst hatte ihn gestern abend abgeschlossen, und der Schlüssel befand sich in seiner rechten Hosentasche, wie er mit einem raschen Griff feststellte.
Er musterte aufmerksam den Inhalt. Von den wenigen Dingen, die Mike für wert befunden hatte, eingeschlossen zu werden, fehlte kein einziges. Aber es war auch hier wie auf dem Schreibtisch oder dem Regaclass="underline" es gab winzige Veränderungen, die Mikes Verdacht endgültig zur Gewißheit machten. Jemand war hiergewesen und hatte seine Sachen durchsucht.
Mike drückte die Tür wieder zu und schloß sorgfältig ab. Wer um alles in der Welt mochte hiergewesen sein, und vor allem: warum? Er wußte natürlich, daß selbst hier schon Diebstähle vorgekommen waren, aber das war doch die Ausnahme - und außerdem besaß er rein gar nichts, was des Stehlens wert gewesen wäre. Er ging zum Schreibtisch, öffnete die Schublade, die ihm vorhin aufgefallen war, und es war dasselbe: ganz offensichtlich hatte jemand seine Habseligkeiten durchsucht. Aber auch hier fehlte nichts.
Die Sache wurde immer rätselhafter. Trotzdem - es gab an diesem Tag nichts, was Mikes gute Laune wirklich hätte verderben können.
Der Wagen rollte am nächsten Morgen um Schlag neun die verschneite Zufahrt von Andara-House hinauf. Obwohl weder Paul noch sein Vater mitgekommen waren und es sich um einen sehr großen Wagen handelte, herrschte während der fast anderthalbstündigen Fahrt doch eine drückende Enge, denn außer Mike und seinen vier Kameraden hatten sich nicht nur McIntire, sondern auch noch Miß McCrooder zu ihnen gesellt, so daß sie alle froh waren, als sie endlich den Hafen erreichten und aussteigen konnten.
Natürlich war Mike der erste, der vom Trittbrett des Wagens herunter in den braunen Morast sprang, in den sich der über Nacht gefallene Schnee verwandelt hatte, und beinahe wäre er auf dem schlüpfrigen Boden ausgeglitten und konnte sich nur im letzten Moment am Kotflügel des Wagens festhalten - was ihm nicht nur das schadenfrohe Gelächter seiner Kameraden, sondern auch ein mißbilligendes Stirnrunzeln McIntires einbrachte. Aber das störte ihn im Moment herzlich wenig. Er grinste nur fröhlich, trat einen Schritt beiseite, um den anderen Platz zu machen, die hinter ihm aus dem Wagen herausdrängten, und zog den Kragen seiner pelzgefütterten Jacke enger zusammen, während er sich umsah.
Der Teil des Hafens, in den sie der Fahrer gebracht hatte, war eine einzige Enttäuschung: Zur Rechten des schmalen Kais, der mit aufgeweichtem schmutzigem Schnee bedeckt war, reihten sich eine Anzahl niedriger, schäbig aussehender Lagerschuppen, die zum Großteil nicht benutzt zu werden schienen - einige Fenster waren eingeschlagen oder mit Brettern vernagelt, manche der großen Rolltore standen offen, so daß man einen Blick in die leeren, dem Verfall anheimgegebenen Räume dahinter werfen konnte. Aus dem Schornstein eines Gebäudes vielleicht fünfzig Meter vor ihnen stieg weißer Rauch, und noch etwas weiter hinten war eine Anzahl Männer damit beschäftigt, einen Lastkarren zu entladen, davon abgesehen jedoch machte die Gegend einen ziemlich verlassenen Eindruck. Das Bild auf der anderen Seite war noch trostloser. Das Wasser der Themse schwappte träge gegen den Kai, und statt der erwarteten Ozeanriesen schwammen nur einige Abfälle auf den braunen, öligen Wellen.
»Nun, wo ist denn dein famoses Schlachtschiff?« hörte er Juans Stimme hinter sich fragen.
Mike unterdrückte den Ärger, mit dem ihn diese Worte erfüllten. Sicher, er war auf der Fahrt hierher nicht müde geworden, ihnen allen von der LEOPOLD vorzuschwärmen, die er ja aus Pauls Erzählungen zumindest theoretisch kannte, und wenn sie seinen Worten auch nur halbwegs Glauben schenkten, dann mußten sie zu der Überzeugung gelangt sein, daß das größte Abenteuer ihres Lebens auf sie wartete. Und alles, was sie im Moment sahen, waren ein schmuddeliger Kai, ein halbes Dutzend leerstehender Lagerschuppen und einige Hafenarbeiter.
»Es ist nicht mein Schlachtschiff«, antwortete er betont und drehte sich um. »Außerdem ist die LEOPOLD manövrierunfähig, wie du sehr wohl weißt. Sie schicken ein Boot, das uns abholt.«
»Und an Bord eines deutschen Kriegsschiffes bringt, das vor der Themsemündung liegt?« fügte Juan in herablassendem Tonfall hinzu. »Und das glaubst du sogar, wie?« Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt und blickte ihn spöttisch an, und hinter ihm hatten jetzt Ben und André Aufstellung genommen. Nur Chris, mit seinen neun Jahren der Jüngste von ihnen, hatte sich ein paar Schritte weit vom Wagen entfernt und sah auf den Fluß hinaus. Dabei trat er unentwegt von einem Fuß auf den anderen.
»Wir haben gestern abend darüber gesprochen«, fuhr Juan mit einer Geste fort, die sowohl die beiden anderen als auch Chris einschloß. »Wie selbst dir nicht entgangen sein dürfte, kriselt es zwischen England und Deutschland, und du glaubst im Ernst, daß in dieser Zeit die englische Regierung zusieht, wie ein deutsches Kriegsschiff vor der Themsemündung herumschippert?«
Mike wäre nie auf die Idee gekommen, Politik mit seinen persönlichen Gefühlen einem anderen Menschen gegenüber in Verbindung zu bringen. Aber er wußte, daß das nicht bei allen Schülern des Internats so war. Gerade in den letzten Monaten hatte Paul sich einige böse Bemerkungen anhören müssen, weil sein Vater Kapitän der deutschen Kriegsmarine war. »Was hat das eine mit dem anderen zu tun?« fragte er mürrisch. »Kapitän Winterfeld ist ganz privat hier, um Paul abzuholen.«
»O ja, und zu diesem Zweck bringt er gleich sein großartiges Schiff mit, wie?« fragte Juan spöttisch.
Mikes Blick glitt über die Gesichter der anderen. Ben sah ihn schadenfroh an, und selbst André lächelte abfällig.
Mike kannte den jungen Franzosen kaum. Er lebte zwar seit zwei Jahren auf Andara-House, und über seine Herkunft gab es verschiedene Gerüchte, nach denen er mal der letzte Sproß eines im Aussterben begriffenen französischen Adelsgeschlechtes war, dann wieder der Sohn eines Pariser Millionärs, dessen Vater keine Zeit hatte, sich um ihn zu kümmern, oder auch das uneheliche Kind einer weltbekannten Schauspielerin. André sprach zwar ein fast akzentfreies Englisch - aber nur, wenn es unbedingt notwendig war.
Mike wandte sich wieder Juan zu. Im Gegensatz zu André macht der Spanier kein Geheimnis um seine Herkunft. Er war tatsächlich der Sohn eines andalusischen Fürsten; und er machte keinen Hehl daraus, daß er sich eine Menge auf das blaue Blut seiner Familie einbildete - und vor allem deren Geld.
»Wenn ihr das glaubt, warum seid ihr dann überhaupt mitgekommen?« frage Mike scharf.
»Vielleicht, um rauszufinden, was hier wirklich los ist«, antwortete Juan mit einem Achselzucken. Er vergrub die Hände in den Jackentaschen und begann auf den Absätzen zu wippen.
»Außerdem ist es immer noch besser, als im Internat rumzusitzen und sich zu langweilen«, fügte Ben hinzu. »Wenn dein Freund nicht kommt, sehen wir uns eben den Hafen an.«
Mike funkelte ihn ärgerlich an. Juan und Ben hatten vielleicht äußerlich nicht viel gemein, aber eines war bei beiden gleich: Mike konnte sie nicht besonders gut leiden.
»He, was ist denn da los?« McIntires Stimme drang scharf an Mikes Ohr und hinderte ihn an einer wütenden Antwort. Der Direktor von Andara-House kam mit weit ausgreifenden Schritten näher, blieb zwischen Mike und den drei anderen Jungen stehen und musterte sie nicht besonders freundlich. »Keinen Streit, wenn ich bitten darf, meine Herren.«
»Wir streiten nicht«, sagte Juan. Er machte sich nicht einmal die Mühe, McIntire bei diesen Worten anzusehen, sondern hielt seinen Blick fest auf Mikes Gesicht gerichtet. »Wir haben nur überlegt, wo das Boot bleibt, das ist alles.«
McIntires Gesichtsausdruck machte sehr deutlich, was er von dieser Antwort hielt. Juan und er waren schon mehr als einmal in aller Öffentlichkeit aneinandergeraten. Doch diesmal zuckte der Direktor nur mit den Schultern, kramte umständlich seine Taschenuhr unter dem Mantel hervor und ließ den Deckel aufschnappen.