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»Es ist in der Tat schon ziemlich spät«, sagte er, nachdem er einen Blick auf das Zifferblatt geworfen hatte. »Aber das Wetter ist schlecht, und das Boot wird eine ganze Weile brauchen, um hierherzukommen. Vielleicht sollten wir uns noch ein wenig gedulden, ehe wir anfangen, irgendwelche Verschwörertheorien zu entwickeln. Meinen Sie nicht auch, Señor del Gado?« Er ließ den Deckel seiner Uhr mit einem hörbaren Geräusch zuschnappen und behielt Juan eine Sekunde lang scharf im Auge, ehe er die Uhr wieder einsteckte.

Juan ließ sich nun doch dazu herab, McIntire anzublicken, und er war klug genug, nichts zu sagen, sondern nur stumm mit dem Kopf zu nicken.

Rasch wandte sich Mike um und ging zu Chris hinüber, der auf der anderen Seite des Wagens stand. Er wollte Juan keine Gelegenheit zu einer weiteren spitzen Bemerkung geben. Der Tag war ohnehin schon halb verdorben.

»Ärger?« fragte Chris, als Mike neben ihm anlangte.

Mike zuckte mit den Achseln. »Das Übliche«, antwortete er. »Juan.«

»Mach dir nichts draus«, sagte Chris. »Er kocht vor Wut, die Ferien im Internat verbringen zu müssen, und sucht jemanden, an dem er seinen Zorn auslassen kann. Er war schon immer ein Blödmann.«

Mike lachte leise. Wahrscheinlich hatte Chris recht. Das Dumme war nur, daß Juans Bemerkung ihn unsicher gemacht hatte. Aber weshalb hätte Winterfeld sie zu einem Besuch auf der LEOPOLD einladen sollen, wenn sie gar nicht hier war? Und außerdem...

Als wären seine Gedanken das Stichwort gewesen, ertönte in diesem Moment das gedämpfte Tuckern eines Dieselmotors, und als Chris und Mike sich herumdrehten und in die Richtung sahen, aus der das Geräusch kam, erblickten sie eine weißgestrichene Barkasse, die genau auf sie zuhielt. Das Boot war viel kleiner, als Mike erwartet hatte, und der kurze Flaggenmast an seinem Heck war leer; auch konnte Mike weder einen Namen noch irgendeine andere Bezeichnung am Bug des Bootes entdecken. Trotzdem zweifelte er keine Sekunde daran, daß dies die Barkasse war, die sie zur LEOPOLD bringen sollte.

»Na also«, sagte McIntire, »da kommt das Boot ja. Es besteht also gar kein Grund zur Aufregung.«

Gemeinsam mit Miß McCrooder - die übrigens ganz gegen ihre sonstige Art bisher kaum ein Wort gesprochen hatte - scheuchte er Juan und die beiden anderen vor sich her zum Wasser. Das Boot kam schnell näher. Mike sah, daß sich mit Ausnahme des Steuermannes, der hinter dem blinden Glas des Ruderhauses nur als verschwommener Schemen zu erkennen war, noch zwei weitere Matrosen an Bord befanden; Männer mit schwarzen Pudelmützen und schweren Arbeitsjacken. Er war ein wenig enttäuscht, daß weder Kapitän Winterfeld selbst noch Paul mitgekommen waren, um sie abzuholen.

»Auf dem Kahn brauchen wir Stunden, um das Schiff zu erreichen«, maulte Juan. McIntire warf ihm einen ärgerlichen Blick zu und wollte etwas erwidern, doch in diesem Moment geschah etwas, was ihre Aufmerksamkeit auf sich zog: Am anderen Ende der Straße wurden aufgeregte Stimmen laut, und als Mike sich umdrehte, sah er, daß die Arbeiter, die vorhin Kisten von dem Lastkarren in den Schuppen transportiert hatten, in eine lautstarke Auseinandersetzung mit einem Fremden verstrickt waren. Sehr schnell wurde aus der Debatte eine heftige Rangelei: »He!« rief Ben. »Da ist was los! Kommt, das sehen wir uns an!« Er wollte loslaufen, aber McIntire ergriff ihn mit einer schnellen Bewegung am Arm und hielt ihn zurück.

»Nichts da!« sagte er scharf. »Ihr bleibt schön hier! Das fehlt mir noch, daß ich euren Eltern erklären muß, wieso ihr in eine Hafenschlägerei verwickelt worden seid!«

Ben machte ein enttäuschtes Gesicht, aber er versuchte nicht, sich aus McIntires Griff zu lösen, sondern trat gehorsam wieder zurück. McIntires Besorgnis war berechtigt - die Rauferei hatte sich in eine ordentliche Schlägerei verwandelt. Schreie wurden laut, und Mike sah, wie sich gleich vier Männer auf einmal auf den Fremden stürzten, um ihn niederzuringen.

Sein Schrecken wandelte sich schon nach wenigen Sekunden in Erstaunen, als er sah, wie erfolgreich sich der Mann zur Wehr setzte. Natürlich konnte er die vierfache Übermacht seiner Gegner nicht wirklich besiegen; so etwas klappte vielleicht in Büchern, aber selten in Wirklichkeit. Doch er hielt sich tapfer.

Die vier Burschen hatten ihn eingekreist und attackierten ihn mit Boxhieben und Tritten, aber irgendwie gelang es ihm immer wieder, den Angriffen auszuweichen und selbst mit blitzschnellen Schlägen zu kontern, die mehr als einmal einen der Angreifer zu Boden schickten. Dabei war er nicht besonders groß oder von kräftigem Wuchs. Der Mann, der schwarzes Haar und einen dunklen Teint hatte, war schlank und nur von durchschnittlicher Größe. Aber er bewegte sich mit katzenhafter Geschmeidigkeit und so schnell, daß Mike einige der Hiebe, die er seinen Gegnern versetzte, nicht einmal richtig sah. Trotzdem wurde der Fremde mehr und mehr in die Enge getrieben, und am Ausgang des ungleichen Kampfes bestand kein Zweifel. Die Übermacht war zu groß.

»Jemand sollte ihm helfen«, sagte Juan plötzlich. »Vier gegen einen ist nicht fair.«

»Nichts da!« antwortete McIntire streng. »Ihr bleibt hier, verstanden? Habt ihr Lust, da hineingezogen zu werden und den Rest des Tages auf einer Polizeiwache zu verbringen statt auf dem Schiff?«

Nervös sah er sich nach der Barkasse um. Das Boot war mittlerweile näher gekommen und begann träge auf der Stelle zu wenden, um am Kai längsseits zu gehen. Einer der beiden Matrosen hatte eine Planke ergriffen, der andere stand im Bug des Bootes und sah neugierig der Prügelei auf dem Kai zu.

Auch Mike blickte wieder zum Schuppen hin. Der Kampf war mittlerweile entschieden. Der Fremde war zu Boden gegangen, und zwei der Burschen waren gerade dabei, seine Arme zu packen und festzuhalten, während ein dritter neben ihm stand und ihm mehrmals hintereinander fest in den Leib trat. Plötzlich kam sich Mike erbärmlich feige vor, einfach dazustehen und tatenlos zu bleiben.

»Wir müssen doch irgend etwas tun«, sagte er. »Sie bringen ihn um.«

»Unsinn!« antwortete McIntire. »So schnell bringt man niemanden um. Wer weiß, was er getan hat.« Aber er sah nicht so drein, als wäre er von seinen eigenen Worten überzeugt, und nach einem Zögern fügte er hinzu: »Ich werde die Angelegenheit melden, sobald wir zurück sind.«

Mike starrte den Direktor von Andara-House verblüfft an. Bis sie zurück waren, würde es später Nachmittag sein, wenn nicht Abend. Was um alles in der Welt glaubte McIntire dann noch melden zu können?

Er kam nicht dazu, etwas zu sagen, denn in diesem Moment hatte die Barkasse das Ufer erreicht. Der Bootsrumpf schlug mit einem dumpfen Laut gegen den Kai, und im selben Moment wurde die Planke zu ihnen heruntergeworfen; der zweite Matrose sprang von Bord und wickelte das Ende eines handstarken Taues um einen der eisernen Poller, die in regelmäßigen Abständen über dem Ufer aufragten.

»Beeilt euch«, sagte McIntire mit einer ungeduldigen Geste. »Wir haben genug Zeit verloren.« Als keiner der Jungen reagierte, trat Miß McCrooder als erste auf die schmale Planke, um mit kleinen, vorsichtigen Schritten zum Boot überzuwechseln. Sie wirkte sehr nervös, und Mike war sicher, daß das nicht nur an dem schmalen Steg lag, über den sie balancieren mußte. Auf ihrem Gesicht lag ein angespannter Ausdruck. Von ihrer gewohnten Fröhlichkeit war nichts mehr zu entdecken, und jetzt fiel ihm auch wieder ein, wie schweigsam sie auf dem Weg hierher gewesen war.

Juan stemmte die behandschuhten Fäuste in die Hüften und maß das Boot mit einem stirnrunzelnden Blick. »Keine Hoheitszeichen«, sagte er mürrisch. »Sie haben den Namen und die Kennung überpinselt, seht euch das an. Was soll denn der Unfug?«

»Juan, Ben - bitte«, seufzte McIntire. »Laßt euch doch nicht zu jeder einzelnen Bewegung auffordern! Wenn ihr hierbleiben wollt, dann sagt es, und wir fahren auf der Stelle ins Internat zurück!«

Das gab den Ausschlag. Die beiden beeilten sich, hinter Miß McCrooder in die Barkasse hinabzusteigen, und auch André und Chris - und nach einem letzten Blick die Straße hinunter schließlich auch Mike - folgten ihnen.