Mike fühlte sich noch immer schlecht. Der Kampf war vorbei, und die vier Burschen schleiften jetzt den wehrlos daliegenden Mann grob auf den offenstehenden Schuppen zu. Gott allein mochte wissen, was sie dort drinnen mit ihm anstellen würden, Mike verstand McIntire einfach nicht. Es war gut möglich, daß die Männer den Fremden umbrachten - und er tat so, als ginge sie das alles nichts an!
McIntire sprang als letzter in das Boot hinein, und schon wurde die Planke wieder eingezogen, und der zweite Matrose löste das Tau, das er noch nicht einmal richtig befestigt gehabt hatte. Der Bootsrumpf erzitterte sacht unter ihren Füßen, als sich die Barkasse vom Ufer trennte und den stumpfen Bug wieder in die Richtung drehte, aus der sie gekommen war.
Mike sah ein letztes Mal zum Ufer zurück. Das Boot drehte sich immer weiter, so daß der Lagerschuppen rasch außer Sicht geriet. Von den vier Männern und ihrem Opfer war nichts mehr zu entdecken. Doch als Mike sich wieder umwandte, sah er, daß Miß McCrooder angespannt in die gleiche Richtung blickte wie er und der Ausdruck auf ihrem Gesicht noch ernster geworden war. McIntire hatte das kleine Ruderhaus betreten und unterhielt sich halblaut, aber heftig mit dem Steuermann. Und auch er deutete immer wieder zurück; zum Ufer und in die Richtung, in der der Lagerschuppen lag. Plötzlich hatte Mike das sichere Gefühl, daß hier irgend etwas nicht stimmte.
Er sollte recht behalten.
Als sie sich weiter in das Hafenbecken hineinbewegten, wurde es empfindlich kalt. Vom Wasser stieg ein eisiger Hauch empor, und während ihnen am Ufer die Lagerschuppen noch ein wenig Schutz vor dem Wind gewährt hatten, schlug er ihnen nun eisig ins Gesicht, so daß Mike nicht der einzige war, der fröstelnd die Hände in den Jackentaschen vergrub und den Kopf einzog. Das Boot nahm Kurs auf die Themsemündung und wurde nur wenig schneller. Wenn sie die ganze Strecke bis zur LEOPOLD in diesem Schneckentempo zurücklegten, dachte Mike, dann konnte es Mittag werden, ehe sie das Schiff auch nur sahen.
Er ging zum Bug des Bootes, blieb jedoch sofort wieder stehen, als er Juan, Ben und André gewahrte, die dort vorne standen und sich lautstark über das Boot und den bevorstehenden Besuch auf der LEOPOLD unterhielten, wobei sie an beiden kein gutes Haar ließen. Mike war für einen Moment nahe daran, ihnen gehörig die Meinung zu sagen. Aber wenn er Juan und den anderen jetzt auch noch einen Vorwand lieferte, tatsächlich einen Streit vom Zaun zu brechen, dann war dieser Tag, auf den er sich so gefreut hatte, vermutlich gar nicht mehr zu retten. Also machte er kehrt, trat an die Reling und sah auf das Wasser hinab, das sich schäumend am Bug brach. Das Boot war tatsächlich erst vor ganz kurzer Zeit gestrichen worden, wie er beiläufig registrierte. Allerdings war das noch lange kein Grund, dachte er, gleich Verschwörung und Verrat zu wittern.
Das intensive Gefühl, angestarrt zu werden, ließ Mike aufsehen. Er drehte sich herum und begegnete für eine Sekunde Miß McCrooders Blick. Sie sah noch immer so nervös aus wie vorhin, als sie an Bord gegangen waren. Doch nun gab sie sich einen Ruck, und auf ihren Zügen erschien wieder das gewohnte, freundliche Lächeln.
Das Gesicht aus dem Wind gedreht, trat sie neben ihn, steckte die Hände unter die Achseln und schauderte übertrieben. »Ich wußte gar nicht, daß es auf dem Wasser so kalt ist«, sagte sie. »Hoffentlich gibt es auf Kapitän Winterfelds Schiff eine vernünftige Heizung.«
Mike lächelte höflich, sagte aber nichts, sondern blickte Miß McCrooder nur aufmerksam von der Seite her an. Sie gab sich große Mühe, sich ihre Unruhe nicht anmerken zu lassen, doch ihr Blick huschte unentwegt über das Wasser, und ihre Haltung verriet eine Anspannung, die nicht allein auf die Kälte zurückzuführen war.
Vor ihnen verbreiterte sich nun die Fahrrinne, und rechts und links des Beckens erhoben sich Schuppen und Gebäude in monotoner Gleichförmigkeit. Mike gewahrte nirgends irgendeine Bewegung oder gar Menschen. Nur von rechts näherte sich ein Schlepper, ein wahres Ungetüm aus rostigem Eisen und Holz, dessen Umrisse eher an einen schwimmenden Berg erinnerten als an ein Schiff. Mike verlängerte den Kurs des Schiffes in Gedanken und stellte fest, daß es ihnen ziemlich nahe kommen mußte, wenn sie ihre momentane Geschwindigkeit beibehielten.
»Ich hätte doch meinen Mantel anziehen sollen«, sagte Miß McCrooder und seufzte. »Aber was tut man nicht alles aus Eitelkeit.«
Mike sah sie abermals an und stellte fest, daß sie tatsächlich am ganzen Leib zitterte und kreidebleich geworden war. »Soll ich Ihnen meinen Schal leihen?« fragte er mitfühlend.
Miß McCrooder zögerte eine Sekunde, dann schüttelte sie den Kopf. »Nein. Ich ... wenn ich ehrlich sein soll - ich fürchte mich.«
»Wovor?« fragte Mike verwirrt.
»Na, vor allem hier«, gestand sie verlegen. »Wasser macht mich nervös. Ich bin noch nie gerne auf Schiffen gewesen. Sie machen mir angst. Ich weiß zwar, daß es Unsinn ist, aber ich habe immer das Gefühl, daß sie jeden Augenblick untergehen müssen. Jetzt wirst du wahrscheinlich über mich lachen und mich für eine zimperliche alte Jungfer halten.«
»Bestimmt nicht«, sagte Mike, und er meinte das auch so. Er wußte, daß jeder Mensch seinen schwachen Punkt hatte; irgend etwas, das ihm einfach angst machte, ob es nun begründet war oder nicht. »Bestimmt nicht«, sagte er. »Ich verstehe das. Bei mir sind es große Höhen, wissen Sie? Mir wird schon schwindelig, wenn ich aus dem Fenster im dritten Stock sehe.«
Miß McCrooder sah ihn eine Sekunde lang zweifelnd an. Plötzlich lächelte sie. »Ich glaube dir zwar kein Wort«, sagte sie, »aber es ist trotzdem nett gemeint.«
Mike lächelte ein wenig verlegen. Er fühlte sich ertappt. Seine Worte waren zwar nicht gelogen gewesen, wohl aber gehörig übertrieben. Mike war tatsächlich nicht schwindelfrei, aber es gehörten schon ein wenig mehr als zwei Treppen dazu, ihm den Schweiß auf die Stirn zu treiben. Doch Miß McCrooder verstand die gute Absicht, die hinter seinen Worten steckte, denn sie lächelte abermals, ehe sie sich wieder herumdrehte und aufs Wasser hinaussah. Sie näherten sich der Themsemündung jetzt schneller, aber auch der Schlepper war deutlich näher gekommen und bewegte sich genau auf sie zu. Er war nicht sehr schnell, und die kleine Barkasse würde ihm mit Leichtigkeit ausweichen können. Sie machte jedoch keine Anstalten dazu.
Mike blickte erstaunt zum Ruderhaus hinüber, und im selben Augenblick rief einer der Matrosen dem Steuermann etwas zu, worauf dieser auch reagierte: er hörte auf, mit McIntire zu diskutieren, und drehte hastig am Steuerruder. Mike registrierte, daß der Matrose nicht englisch gesprochen hatte. Das Boot begann unter ihren Füßen zu bocken, als es schwerfällig seinen Kurs änderte, um dem Schlepper auszuweichen. Allerdings nicht sehr weit. Sie würden dem großen Schiff trotz allem gefährlich nahe kommen.
»Ist der Kerl verrückt geworden?« fragte Juan. Damit meinte er den Steuermann, der das näher kommende Schiff scharf im Auge behielt, während er immer hektischer am Ruder drehte.
Der Erfolg ließ allerdings zu wünschen übrig, fand Mike. Sie näherten sich dem riesigen Schlepper zwar jetzt im Zickzack, was aber nichts daran änderte, daß sie sich ihm immer noch näherten.
Auch McIntire redete mit schriller Stimme auf den Steuermann ein, wobei er immer wieder auf den Schlepper deutete; mit dem einzigen Ergebnis wahrscheinlich, dachte Mike, daß er den Mann noch nervöser machte.
Er sah wieder nach vorne. Juan, Ben und André waren instinktiv ein Stück vom Bug zurückgewichen, und Miß McCrooder hatte den kleinen Chris schützend an sich gepreßt. Der Matrose tat etwas, was Mike völlig sinnlos vorkam: Er zog seine Jacke aus, obwohl es schneidend kalt war.
Natürlich waren sie nicht wirklich in Gefahr. Ihre Kursänderung war vielleicht nicht dramatisch, aber Mike erkannte bald, daß sie durchaus reichte, sie in geringer Entfernung an dem größeren Schiff vorbeizubringen. Sie würden ein bißchen durchgeschüttelt werden, das war alles.