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Doch es kam anders. Sie hatten sich dem Schlepper auf weniger als fünfzig Meter genähert, als dieser plötzlich den Kurs änderte. Sein gewaltiger, runder Bug schwenkte in einer träge wirkenden Bewegung herum - und zielte mit einem Mal genau auf die kleine Barkasse!

Mikes überraschtes Keuchen ging in den Schreckensschreien der anderen unter. Juan, Ben und André begannen wild und ziellos durcheinanderzulaufen, während Miß McCrooder stocksteif und mit entsetzt vor das Gesicht geschlagenen Händen dastand und aus Leibeskräften schrie. Der Matrose, der seine Jacke ausgezogen hatte, war mit zwei gewaltigen Schritten auf der anderen Seite des Schiffes und sprang kurzerhand über Bord, und Mike hörte, wie hinter ihm die Tür des Ruderhauses aufgerissen wurde und McIntire irgend etwas schrie. Doch auch er selbst stand da und starrte das näherkommende Schiff an, als könnte er einfach nicht glauben, was er sah.

Das Schiff schien plötzlich mit unheimlicher Schnelligkeit auf sie zuzuschießen. Mike sah, wie sich das Wasser schäumend an seinem Bug brach, der immer größer und größer zu werden schien, bis er den ganzen Himmel vor ihnen ausfüllte und immer noch größer wurde.

Dann kam der Aufprall. Mike versuchte, sich dagegen zu wappnen, doch der Schlag war hundertmal schlimmer, als er erwartet hatte. Die kleine Barkasse wurde wie von einem Axthieb in zwei Teile gespalten und zugleich auf die Seite geworfen, und Mike selbst fühlte sich wie von einer unsichtbaren Hand gepackt und hoch in die Luft geschleudert. Die Schreie der anderen gingen im Bersten und Splittern des auseinanderbrechenden Bootes unter, während Mike sich zweimal in der Luft überschlug und dann auf das Wasser hinabstürzte. Eine Sekunde, bevor er aufschlug, sah er, wie sich der Bug der in zwei Teile zerschmetterten Barkasse aufbäumte und seine Passagiere abschüttelte wie ein bockendes Pferd, während das Heck vom Bug des Schleppers wie von einer eisernen Faust unter Wasser gedrückt wurde und sprudelnd versank.

Die Wucht seines Sturzes schien die Wasseroberfläche in eine Glasscheibe verwandelt zu haben, durch die er mit grausamer Kraft hindurchgeprügelt wurde. Er hatte das Gefühl, sich jeden einzelnen Knochen im Leib gebrochen zu haben, aber noch schlimmer war die Kälte, die mit dem Wasser über ihm zusammenschlug und eine Million glühender Nadeln in seine Haut zu bohren schien. Um ein Haar hätte er aufgeschrien, was hier unter Wasser vermutlich seinen sicheren Tod bedeutet hätte. Sein Herz setzte tatsächlich für eine Sekunde aus, ehe es mit solcher Kraft und so schnell weiterhämmerte, daß er es bis in die Finger- und Zehenspitzen fühlen konnte.

Mike sank tiefer. Die Wucht seines Sturzes hatte ihn sicher zwei Meter ins Wasser hinabgedrückt, und seine Kleider begannen sich sofort mit Wasser vollzusaugen. Und plötzlich erschien über ihm ein gigantischer schwarzer Schatten, und das Wasser war mit einem Male von einem dumpfen Brausen und Rauschen erfüllt. Der Schlepper, der die Barkasse wie ein Spielzeugschiffchen versenkt hatte, fuhr nun direkt über ihn hinweg!

Mike begriff die Gefahr, in der er schwebte, im allerletzten Moment. Obwohl er schon jetzt an Atemnot litt, drehte er sich herum und versuchte mit verzweifelter Kraft weiter zu tauchen, um dem Verhängnis zu entgehen, das über ihm herangerast kam. Der muschelbesetzte Rumpf des Schiffes verfehlte ihn nur um Zentimeter, und die Druckwelle preßte ihn noch weiter nach unten, rettete ihm aber wohl auch zugleich das Leben, denn schon die geringste Berührung des Schiffsrumpfes, der mit seinem Panzer aus Muschelkalk wie ein übergroßes Reibeisen wirken mußte, hätte ihn wahrscheinlich auf der Stelle getötet oder ihm zumindest entsetzliche Verletzungen zugefügt.

Aber die Gefahr war noch keineswegs vorüber. Mikes Atem wurde wirklich knapp, und die Kälte begann seine Muskeln zu lahmen. Es war ihm gelungen, nicht nur nach unten, sondern auch ein Stück zur Seite wegzuschwimmen, so daß er an die Oberfläche hätte zurücktauchen können, ohne Gefahr zu laufen, vom Schiff oder gar der rasenden Schraube an dessen Heck erfaßt zu werden. Mike trat aus Leibeskräften Wasser und bewegte wild die Arme, doch statt sich wieder nach oben zu bewegen, sank er im Gegenteil immer schneller in die Tiefe, wobei er sich langsam um seine eigene Achse drehte. Seine Kleider - vor allem die dicke, pelzgefütterte Jacke - hatten sich mittlerweile so mit Wasser vollgesogen, daß sie ihn wie steinerne Gewichte in die Tiefe zerrten. Er mußte aus der Jacke heraus!

Ungeschickt begann Mike, die Knöpfe zu öffnen und das schwere Kleidungsstück abzustreifen, während er immer noch weiter sank. Es war ein Wettlauf mit der Zeit. Ihm blieben nur noch Sekunden, bis er entweder das Bewußtsein verlor oder die Atemnot so schlimm wurde, daß er den Mund öffnete und einfach zu atmen versuchte - und das wäre dann das sichere Ende.

Vor ihm bewegte sich etwas. Ein Schatten schoß durch den Vorhang aus silbernen Luftperlen auf ihn zu, der ihn umgab, und für eine Sekunde glaubte Mike, in ein riesiges, bizarres Zyklopengesicht zu blicken, aus dem ihn ein einzelnes, ausdrucksloses Auge anstarrte. Gewaltige Hände, viel zu groß für einen Menschen und mit nur drei Fingern, streckten sich nach ihm aus. Offensichtlich hatte er schon Halluzinationen.

Im buchstäblich allerletzten Moment gelang es ihm, sich von der Jacke zu befreien. Sie sank wie ein Stein auf den Grund des Hafenbeckens hinab, der jetzt nur noch drei oder vier Meter unter ihm lag, während Mike mit wilden Schwimmbewegungen wieder in die Höhe schoß. Die Wasseroberfläche näherte sich ihm wie ein zitternder Silberspiegel, aber der Druck in seiner Brust wurde immer stärker, überstieg die Grenzen des Erträglichen und -

dann konnte er atmen.

Mike schoß, von seinem eigenen Schwung getragen, aus dem Wasser heraus, klatschte zurück und sog gierig die Lungen voller frischer, herrlich kühler Luft. Er war dem Tode buchstäblich um einen Atemzug entronnen.

Für eine ganze Weile tat Mike nichts anderes, als mühsam Wasser tretend auf der Stelle zu schwimmen und zu atmen, ehe er wieder so weit bei Bewußtsein war, daß er den Kopf heben und sich umsehen konnte. Der Anblick, der sich ihm bot, war schrecklich. Der Schlepper war weitergefahren und machte nicht einmal Anstalten, beizudrehen oder auch nur seine Geschwindigkeit zu verringern. Auf dem Wasser schwammen Hunderte von Trümmerstücken; allen voran das vordere zerschmetterte Drittel der Barkasse, das kieloben trieb, aber nicht sank, und dazwischen erblickte er die Köpfe der anderen, die wie Korken auf dem aufgewühlten Wasser hüpften. Er hörte Juan und Miß McCrooder schreien, und gleich darauf erkannte er auch Ben, Chris und schließlich auch André. Von McIntire und den drei Besatzungsmitgliedern der Barkasse war keine Spur zu entdecken. Mike hoffte inständig, daß sie nicht ertrunken oder bei dem Zusammenstoß ums Leben gekommen waren.

Doch auch er selbst befand sich keineswegs außer Gefahr. Zwar konnte er sich im Moment mühsam an der Oberfläche halten, aber die Kälte drang weiter in seinen Körper ein und lahmte seine Muskeln. Er wußte, daß er nicht die Kraft haben würde, bis zum Ufer zurückzuschwimmen. Also hielt er nach einem größeren Trümmerstück Ausschau und kraulte los.

Etwas zupfte an seinem Bein, und Mikes Herz machte einen erschrockenen Sprung in seiner Brust. Plötzlich mußte er wieder an das Zyklopengesicht denken, das er für eine Sekunde zu sehen geglaubt hatte. Er bemühte sich, noch schneller zu schwimmen. Nur ein kleines Stück von ihm entfernt tauchte Juan auf und nahm Kurs auf das gleiche Trümmerstück. Der junge Spanier hatte tatsächlich die Kraft, den Arm aus dem Wasser zu heben und ihm zuzuwinken.

Wieder berührte etwas seinen Fuß. Mike sah nach hinten - und schrie entsetzt auf!

Es war keine Halluzination gewesen! Aus dem Wasser tauchte eine dreifingrige Pranke auf und schmiegte sich um sein rechtes Fußgelenk, und dann wurde er auch schon mit einem so harten Ruck in die Tiefe gezerrt, daß er wieder aufschrie und seine kostbare Atemluft in einem Strom silberner Blasen vor seinem Gesicht in die Höhe stieg.