»Ich will es kurz machen«, begann er schließlich. »Ich habe dich entführen lassen, weil ich etwas Bestimmtes von dir will. Ich nehme an, du weißt nicht, daß dein Vater bei einem Notar in London Papiere für dich hinterlegt hat, die dir an deinem einundzwanzigsten Geburtstag übergeben werden sollen. Ich bin nun in den Besitz dieser Dokumente gelangt - wie, das ist jetzt nebensächlich.«
Er senkte den Blick auf den mit Papieren und Blättern übersäten Schreibtisch, und Mike versuchte zu erkennen, was auf ihnen geschrieben stand.
Die meisten Blätter waren eng mit einer unleserlichen Handschrift bekritzelt und schienen außer Text auch eine Unzahl komplizierter Formeln und Gleichungen zu enthalten. Bei einigen wenigen Blättern handelte es sich ganz offensichtlich um Seekarten.
»Wie es scheint«, fuhr Winterfeld nach einer kurzen Pause fort und seufzte, »nützen mir diese Papiere allein gar nichts. Dein Vater hat sie nämlich in einem Code abgefaßt, den wohl nur du lesen kannst. Du verstehst jetzt mein Problem?«
»Ja«, antwortete Mike, »aber ich muß Sie enttäuschen. Ich weiß nichts von einem Code.« Er nahm eines der Blätter zur Hand und studierte es ein paar Sekunden lang aufmerksam. Dann verbiß er sich mit Mühe ein Grinsen. Tatsächlich war die Schrift scheinbar unleserlich - aber eben nur scheinbar. Was Winterfeld für einen Code hielt, das war nichts anderes als Sanskrit, die indische Schrift, deren Buchstaben dem unkundigen Auge tatsächlich wie die verschlungenen Symbole einer Geheimschrift erscheinen mochten. Es handelte sich um einen kaum bekannten - und fast ausgestorbenen - Dialekt. Sein Vormund hatte darauf bestanden, daß er ihn lernte, und bis zu diesem Moment hatte Mike niemals eingesehen, wozu das gut sein sollte. Jetzt glaubte er es allmählich zu begreifen.
Als er das Blatt wieder senkte, begegnete er Winterfelds Blick, und was er darin las, das ließ ihn seine Schadenfreude auf der Stelle wieder vergessen. »Versuche bitte nicht, mich für dumm zu verkaufen, Michael«, sagte Winterfeld. »Ich weiß sehr wohl, daß diese Papiere in deiner Muttersprache abgefaßt sind. Für so etwas gibt es Dolmetscher, die sie mir mühelos übersetzen. Aber die Dolmetscher sagen, die Texte ergeben keinen Sinn. Sie sind in einem Code abgefaßt.«
Mike sah noch einmal genau hin und mußte zugeben, daß Winterfeld recht hatte. Er verstand zwar die Sprache, in der die Papiere abgefaßt waren - aber der Text war trotzdem ein einziges Durcheinander.
»Ich weiß wirklich nichts von einem Code«, sagte er. »Ich kann das auch nicht lesen.«
»Lüg mich nicht an!« sagte Winterfeld streng. »Dein Vater wird sich kaum all diese Mühe gemacht haben, wenn er wußte, daß du es nicht lesen kannst!«
»Vielleicht ... ist er nicht mehr dazu gekommen, mir alles zu erzählen«, meinte Mike. »Er und meine Mutter kamen bei einem Unfall ums Leben, als ich -«
»Das weiß ich«, unterbrach ihn Winterfeld ungeduldig. »Er hat diese Papiere ein Jahr vor seinem Tod hinterlegt. Jemand, der so umsichtig ist, wird dann kaum vergessen, dem, für den sie bestimmt sind, die Schlüssel auszuhändigen, oder?«
Winterfelds Worte klangen so logisch, daß Mike nicht mehr widersprach. Er fühlte sich hilflos. Er hatte die Wahrheit gesagt, aber er wußte auch, daß Winterfeld ihm gar nicht glauben konnte, so wie die Dinge lagen. Plötzlich fiel ihm etwas ein. »An dem Tag, als Sie Paul abholten, sind meine Sachen durchsucht worden«, sagte er. »Das geschah in Ihrem Auftrag, nicht wahr?«
»Ja«, gab Winterfeld ungerührt zu. »Aber nun etwas anderes.« Er beugte sich vor, grub eine Karte aus dem Papierstapel auf dem Tisch aus und hielt sie Mike hin. »Ich nehme an, das hier sagt dir auch nichts?« blaffte er.
Mike nahm die Karte zögernd entgegen und studierte sie aufmerksam. Er erkannte, daß es sich um eine Seekarte handelte, die ein Stück einer Küstenlinie und eine Anzahl kleiner Inseln zeigte, aber damit hörte es auch schon auf. Das einzig Auffällige daran war vielleicht das Material, auf dem sie gezeichnet war. Anstelle von Papier hatte der Zeichner dünnes, beinahe durchsichtiges Pergament verwendet, das unter den Fingern knisterte und so brüchig war, daß Mike fast befürchtete, es würde unter seiner Berührung einfach zerkrümeln. Sehr behutsam legte er die Karte auf den Tisch zurück und schüttelte den Kopf.
Winterfeld beherrschte sich jetzt nur noch mühsam. So zornig, als wolle er ein Loch hineinbohren, stieß er mit dem Zeigefinger auf die Karte herab. »Das hier ist Kuba, und diese Linie hier stellt die südamerikanische Ostküste dar. Sagt dir das vielleicht etwas?«
»Nein«, antwortete Mike. »Wirklich nicht.«
Mike begriff tatsächlich nicht, was all diese Papiere und Karten zu bedeuten hatten. Er wußte zwar, daß sein Vater zweimal im Leben zur See gefahren war, aber doch nur als Passagier auf einem Schiff, um von Indien nach England zu gelangen und zurück. Was sollte er mit all diesen Seekarten und geheimnisvollen Formeln?
»Du machst es mir wirklich nicht leicht, Michael«, sagte Winterfeld wütend. »Bei den Papieren war ein Brief deines Vaters an dich, der besagte, daß du diese Karte entschlüsseln kannst. Also sollte deine Vernunft dir sagen, daß es vollkommen sinnlos ist, mich zu belügen. Früher oder später finde ich doch heraus, was diese Karten bedeuten. Einen Unterschied macht es nur für dich und deine Freunde. Mir ist es ziemlich gleich, ob ich euch irgendwo in England wieder an Land setze oder auf einer einsamen Insel in der Karibik.«
»Die anderen?« Mike erschrak. »Sie haben die anderen auch entführt?«
»Mir blieb keine andere Wahl«, sagte Winterfeld ruhig, »nachdem sich der Kapitän des Schleppers so ungeschickt anstellte, mußte alles auch offiziell nach einem Unfall aussehen. Nur du solltest von den anderen abgesondert und aufgenommen werden. Aber so ... unglückseligerweise hat einer deiner Kameraden den Taucher gesehen.«
»Und was haben Sie mit uns vor?« fragte Mike.
»Nichts«, antwortete Winterfeld. »Ihr bleibt für eine Weile meine Gäste, das ist alles. Wenige Monate, vielleicht sogar nur noch Wochen.«
»Aber ich weiß doch nichts!« protestierte Mike.
Winterfeld schüttelte den Kopf und begann die Papiere zusammenzusortieren. »Vielleicht sagst du sogar die Wahrheit«, sagte er etwas ruhiger. »Vielleicht weißt du wirklich nichts. Aber ich bin sicher, daß du herausfinden kannst, was das alles bedeutet. Nun, du wirst Zeit genug haben, darüber nachzudenken. Ich werde dich hierbehalten, bis ich diese Karten entschlüsselt habe - egal, ob allein oder mit deiner Hilfe.«
»Ich würde es nicht einmal tun, wenn ich es könnte«, sagte Mike zornig.
»Das glaube ich dir sogar«, antwortete Winterfeld. »Und ich verstehe es. Aber wenn dir dein eigenes Schicksal schon gleich ist, dann denk doch wenigstens an deine Freunde.«
Mike spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoß. »Sie sind ein -«
Winterfeld hob befehlend die Hand. »Bitte, Michael! Es nutzt keinem von uns, wenn du mich beleidigst. Geh jetzt zurück zu deinen Freunden. Ihr könnt ja gemeinsam darüber nachdenken, ob ihr unbedingt Lust habt, mich und dieses Schiff in die Karibik zu begleiten oder nicht.«
Winterfeld machte eine ungeduldige Handbewegung, und Mike wandte sich zur Tür, drehte sich aber wieder zu Winterfeld um. »Darf ich noch eine Frage stellen?«
Winterfeld sah von seinen Papieren auf. Er schwieg.
»Was ist mit Paul?« fragte Mike. »Hat er von alledem hier gewußt?«
»Paul?« Winterfeld lächelte. »Nein. Ich habe ihm erzählt, daß aus dem geplanten Ausflug nichts geworden ist. Er war ziemlich traurig. Aber er weiß nichts. Darauf gebe ich dir mein Ehrenwort.«
Miß McCrooder war nicht mehr in der Kabine, als Mike zurückgebracht wurde. Dafür lagen auf der Pritsche trockene, sauber zusammengefaltete Kleider, die Mike anzog, froh, endlich mit mehr als nur einer Decke bekleidet zu sein. Einige Augenblicke später wurde ihm etwas zu essen gebracht, und noch bevor er seine Mahlzeit völlig beendet hatte, nahm das Unterseeboot fühlbar Fahrt auf. Eine Viertelstunde später wurde die Tür geöffnet, und die beiden Matrosen kamen, um ihn abzuholen. Auf dem Weg nach oben begegnete er auch Miß McCrooder wieder, doch alles ging viel zu schnell, als daß sie Gelegenheit gefunden hätten, auch nur ein Wort miteinander zu wechseln. Ihre Bewacher bugsierten sie zu einer Leiter, über die sie steil in die Höhe und durch einen kurzen, metallenen Turm kletterten.