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Was die Fehden der beiden Gelehrten betriffi, so lassen sie an Ausdauer und Bitterkeit nichts zu wünschen übrig. Man muß zugeben, daß Challenger sich in höchstem Maße herausfordernd benimmt, auf der anderen Seite aber hat Summerlee eine überaus spitze Zunge und macht damit alles noch viel schlimmer.

Am vergangenen Abend sagte Challenger zum Beispiel, er gehe deshalb so ungern am Ufer der ^emse spazieren, weil er keine Lust habe, seine letzte Ruhestätte vor Augen zu haben. Gemeint hat er damit Westminster Abbey, die Kirche, in der viele bedeutende Engländer beigesetzt werden.

»Ich denke, das Millbank-Gefängnis ist schon längst abgerissen«, hatte Professor Summerlee prompt mit einem giftigen Lächeln entgegnet.

Challengers Selbstbewußtsein ist durch nichts zu erschüttern, also hat ihn die Antwort auch nicht geärgert.

»So, so - abgerissen«, sagte er, und das in einem Ton, als habe er ein etwas störrisches Kind vor sich.

Sie sind beide Kinder - der eine ist verknöchert und zänkisch, der andere furchteinflößend und tyrannisch. Dabei haben beide ein Gehirn, das allen Wissenschaftlern Europas größten Respekt einflößt. Verstand, Charakter und Seele - wie unterschiedlich diese drei entwickelt sein können, lernt man erst im Laufe seines Lebens.

Der nächste Tag brachte den eigentlichen Start zu unserer Expedition. Wir stellten fest, daß alles Gepäck bequem in den beiden Kanus Platz hatte, und teilten uns in zwei Besatzungen von je sechs Mann auf. Im Interesse des allgemeinen Friedens setzten wir in jedes Boot einen Professor. Ich selber fuhr mit Challenger, der gut aufgelegt war und vor Wohlwollen strahlte. Da ich ihn aber schon in anderer Stimmung erlebt habe, bin ich selten überrascht, wenn ein Gewitter aus heiterem Himmel kommt. In seiner Gegenwart fühlt man sich nie ganz unbefangen, weil man ständig damit rechnet, daß seine Laune umschlägt.

Zwei Tage lang fuhren wir einen mittelgroßen, einige hundert Meter breiten Fluß hinauf, dessen Wasser dunkel und doch klar war. Meistens konnte man bis auf den Grund sehen. Das ist bei vielen Zuflüssen des Amazonas der Fall. Andere wiederum sind gelblich und trübe. Dieser Unterschied rührt von der verschiedenen Bodenbeschaffenheit ihrer Ursprungsgebiete her. Die dunklen Gewässer zeugen von vermoderter Vegetation, die anderen verdan-ken ihre Färbung lehmigem Boden. Zweimal kamen wir an Stromschnellen, die wir in beiden Fällen durch einen Transport über Land von über einer halben Meile Marsch umgehen mußten. Die Wälder auf beiden Seiten sind ur-zeitlich und leichter zu passieren als jüngere Baumbestände. Wir hatten keine großen Schwierigkeiten, mit unseren Kanus hindurchzukommen.

Wie könnte ich j emals das feierliche, rätselvolle Schweigen vergessen? Die Höhe der Bäume und der Durchmesser ihrer Stämme übertrafen alles, was ich Stadtmensch mir hätte vorstellen können. Wie prachtvolle Säulen ragten sie hinauf. Hoch über unseren Köpfen konnten wir undeutlich erkennen, wie die Äste in beinahe gotischen Bögen ausschwangen und sich zu einem einzigen, dichtverstrebten Laubdach vereinigten. Nur hie und da vermochte ein goldener Sonnenstrahl durchzudrängen, um als blendender Lichtpfeil das majestätische Halbdunkel zu erhellen. Als wir geräuschlos über den dicken, weichen Teppich aus vermodertem Pflanzenwerk gingen, überkam uns das gleiche ehrfruchtsvolle Schweigen, das einen im Zwielicht eines Domes befällt. Professor Challengers übliche Lautstärke sank zu einem Geflüster herab. Ich hatte keine Ahnung von den Namen dieser Baumriesen, aber unsere Wissenschaftler zeigten mir die Zedern, die großen Baumwoll- und Mahagonibäume und all den Überfluß an mannigfaltigen Pflanzen. Bunte Orchideen und Moose in wunderbarer Farbenpracht glühten auf den dunklen Baumstämmen. Wo ein verirrter Sonnenstrahl auf eine goldene Allamanda, die scharlachroten Sternbündel der Tasconia oder das satte Tiefolau der Ipomae fiel, sah es aus wie in einem Traum aus einem Märchenland. Das Leben muß sich in diesen Urwäldern ständig nach oben zum Licht durchkämpfen. Jede Pflanze, sogar die kleinste, windet und ringelt sich der grünen Oberfläche entgegen und schlingt sich um ihre stärkeren Brüder.

Tierisches Leben regte sich kaum in den majestätischen Gewölben, die sich vor uns erstreckten. Aber eine beständige Unruhe weit über unseren Köpfen signalisierte die bunte Welt der Schlangen und der Affen, der Vögel und Faultiere, die dort oben im Sonnenlicht leben und wohl verwundert auf uns winzige, dunkle, dahinstolpernde Gestalten in der Tiefe herabblickten. In der Morgendämmerung und bei Sonnenuntergang schrien Brüllaffen, und Sittiche brachen in schrilles Gekreische aus. Während der heißen Tagesstunden jedoch drang nur das durchdringende Sirren der Insekten an unser Ohr. Sonst regte sich nichts im Dunkel zwischen den Baumstämmen. Nur einmal rannte ein krummbeiniges, watschelndes Etwas, ein Ameisenbär oder was auch immer, unbeholfen vor uns davon und verschwand im Schatten. Das war das einzige Zeichen von tierischem Leben, das ich in diesem riesigen Waldgebiet am Amazonas sah.

Und doch gab es Anzeichen dafür, daß sogar menschliches Leben in dieser Abgeschiedenheit existierte, und gar nicht so weit von uns entfernt: Am dritten Reisetag bemerkten wir in der Luft ein rhythmisches und feierliches Trommeln, das den ganzen Vormittag hindurch anhielt. Im Abstand von wenigen Metern zogen unsere Boote dahin, als wir es zum erstenmal hörten. Unsere Indianer erstarrten. Unbeweglich wie Bronzestatuen lauschten sie, und aus ihren Gesichtern sprach Entsetzen.

»Was ist das?« fragte ich.

»Scheinen Trommeln zu sein«, sagte Lord John. »Kriegstrommeln. Ich habe sie schon mal gehört.«

»Ja, Sir, Kriegs trommeln«, sagte Gomez, der Mestize. »Wilde Indianer, Krieger, keine friedlichen Stämme. Sie beobachten uns und wollen uns umbringen.«

»Sie beobachten uns?« wiederholte ich. »Wie denn?«

Ich spähte durch die dunkle, unbewegte Leere um uns herum.

Der Mestize hob die Schultern. »Die Indianer wissen Bescheid. Sie haben ihre Methoden. Mit den Trommeln verständigen sie sich. Sie wollen uns töten.«

Am Nachmittag jenes Tages - nach meinem Taschenkalender war es Dienstag, der 18. August - dröhnten wenigstens sechs oder sieben Trommeln aus verschiedenen Richtungen. Zuweilen schlugen sie rasch, zuweilen langsam, manchmal in offensichtlicher Frage und Antwort. Eine, weit im Osten, brach in ein schnelles Stakkato aus, dem nach einer Pause ein tiefer Wirbel aus Norden folgte. Etwas unbeschreiblich Zermürbendes und Drohendes lag in diesem unauftörlichen Dröhnen, doch nirgends war jemand.

»Wir töten euch!« dröhnte es. »Wir töten euch! Wir töten euch!«

Die Gesichter unserer farbigen Begleiter wurden immer ängstlicher, und selbst der abgebrühte, oft wichtigtueri-sche Gomez war eingeschüchtert, während ich an diesem Tag zum ersten- und ein für allemal begriff, daß sowohl Summerlee als auch Challenger von derselben merkwürdigen Tapferkeit beseelt waren, nämlich der Tapferkeit der Forscherseele. Die Natur hat es voll Barmherzigkeit so eingerichtet, daß das menschliche Gehirn nicht zwei Dinge auf einmal denken kann und somit kein Raum für persönliche Betrachtungen bleibt, wenn die wissenschaftliche Neugier Einzug gehalten hat.

Inmitten des bedrohlichen Trommelns, das aus allen Himmelsrichtungen auf uns eindrang, beobachteten unsere beiden Professoren jeden Vogel, den sie erspähen konnten, und jeden Busch am Rande des Ufers. Und gleichzeitig stritten sie, wie sie es immer taten, über alle möglichen wissenschaftlichen Nebensächlichkeiten. Man hätte meinen können, sie hätten sich nur aus einem Grund zusammen auf Expedition begeben: um einmal rund um die Uhr streiten zu können.

Lediglich ein einziges Mal fielen ein paar Worte über die Trommeln um uns herum.