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»Entweder Miranha- oder Amajuaca-Kannibalen«, meinte Challenger beiläufig und deutete mit dem Daumen in das Gewirr von Schlingpflanzen.

»Könnte stimmen«, entgegnete Professor Summerlee. »Höchstwahrscheinlich mongolid, sprechen einen polysynthetischen Dialekt, nehme ich an.«

»Was denn sonst?« knurrte Professor Challenger und lächelte herablassend. »Auf dem ganzen Kontinent existiert keine andere Sprache, wenn ich richtig informiert bin, und das bin ich, weil ich Aufzeichnungen besitze, die beweisen, daß über hundert Dialekte von ihr abgeleitet sind. Das mit dem mongoliden Typus allerdings wage ich zu bezweifeln.«

»Dabei sollte man doch meinen«, entgegnete Professor Summerlee giftig, »daß bereits die elementarsten Kenntnisse in Vergleichender Anatomie ausreichen, um es eindeutig zu bestätigen.«

Challenger schob Kinn und Bart angriffslustig nach vorn. »Die elementarsten Kenntnisse schon«, sagte er. »Verfügt man jedoch über wirklich fundiertes Wissen auf diesem Gebiet, so kommt man zu völlig anderen Schlußfolgerungen, mein lieber Herr Kollege.«

Die beiden Gelehrten sahen sich mit herausfordernden Blicken an, während die Trommeln ohne Unterlaß ihre Todesdrohungen durch den Dschungel sandten.

In dieser Nacht verankerten wir unsere Kanus in der Mitte des Flusses mit schweren Steinen und trafen Vorkehrungen gegen einen eventuellen Angriff. Es ereignete sich jedoch nichts, und so setzten wir beim Anbruch des Tages unsere Reise fort. Langsam erstarb das Trommeln hinter uns.

Gegen drei Uhr nachmittags kamen wir zu einer steilen Stromschnelle, die sich über eine Meile hinzog. Genau hier hatte Professor Challenger vor zwei Jahren Schiffiruch erlitten und sein kostbares Beweismaterial verloren. Beim Anblick dieses Streckenabschnitts empfand ich einen Anflug von Genugtuung, muß ich gestehen, denn hier schienen wir auf den ersten sicheren Beweis gestoßen zu sein, der für die Glaubwürdigkeit Professor Challengers sprach.

Die Indianer schleppten Kanus, Ausrüstung und Proviant durch das schier undurchdringliche Unterholz, während wir vier Weißen das Gewehr schußbereit hielten, um ihnen bei einem plötzlichen Angriff Feuerschutz zu geben.

Bei Einbruch der Dunkelheit hatten wir die Stromschnellen glücklich hinter uns gebracht und waren sogar noch zehn Meilen weiter flußaufwärts vorgedrungen. Wir warfen Anker und bereiteten unser Nachtlager. Nach meiner Schätzung hatten wir bis zu diesem Punkt bereits gute hundert Meilen auf diesem Nebenfluß des Amazonas zurückgelegt.

Am frühen Morgen des nächsten Tages kam die große Kursänderung. Professor Challenger, der seit dem Morgengrauen auffällig unruhig und nervös gewesen war, suchte unauftörlich beide Flußufer ab, bis er plötzlich eine Art Freudengeheul anstimmte und auf einen alleinstehenden Baum deutete, der in einem schrägen Winkel über das Ufer ragte.

»Und wofür halten Sie das?« fragte er Professor Summerlee.

»Für eine Assaipalme«, antwortete dieser.

»Richtig. Und genau diese Assaipalme ist mein Wegweiser. Der verborgene Einstieg liegt genau eine halbe Meile von hier entfernt, am gegenüberliegenden Flußufer. Im Unterholz keine Lücke, das sind das Wunder und das Geheimnis. Keine Lücke, aber statt des dunkelgrünen Dickichts Binsen von einem etwas helleren Grün. Die Binsen verbergen das Tor, welches ins Unbekannte führt. Sie werden es gleich mit eigenen Augen sehen.«

Der Atem stockte mir. Als wir die Stelle mit den Binsen erreicht und unsere Kanus hindurch gesteuert hatten, kamen wir nach etwa hundert Meter in einen ruhig dahinfließenden, flachen Strom, dessen Wassermassen klar und durchsichtig über sandigen Grund glitten. Der Strom mag an die zwanzig Meter breit sein, seine Ufer quellen über vor üppiger Vegetation. Nur wer das scharfe, geübte Auge des Professors besitzt, und ich gehöre zu jenen, ist in der Lage, die leichte Veränderung in der Schattierung der Grüntöne zu erkennen, die den Zugang zu diesem Strom und seiner märchenhaften Umgebung bildet.

Die Landschaft ist prachtvoller, als alle menschliche Phantasie sie zu erträumen vermag. Der reiche Pflanzenwuchs der Ufer strebt in die Höhe, um sich weit über uns wie in einem natürlichen Laubengang zu treffen und ineinander zu verschlingen. Auf seinem Grund in goldenem Zwielicht der Fluß, klar wie Kristall, fast bewegungslos und grün schillernd wie die Kanten eines Eisbergs. Jeder Schlag unserer Paddel bewirkte, daß tausend kleine Fältchen über die Wasseroberfläche glitten. Ein zauberhafter Weg ins Land der Wunder.

Von den Indianern war nichts mehr zu hören, aber Tiere gab es, und ihre Zutraulichkeit schien zu beweisen, daß sie im Menschen keine Gefahr sahen. Die Wildnis hier wurde also selten von Menschen durchstreift.

Flaumige, kleine Seidenäffchen mit schneeweißen Zähnen und frechen Augen schnatterten uns zu, als wir an ihnen vorbeiglitten. Aus einer lichten Stelle am Ufer lugte uns ein dicker, plumper Tapir hinterher, ab und zu ließ sich ein Alligator mit einem Plumpsen vom Ufer ins Wasser fallen, und einmal sahen wir sogar einen Puma im Unterholz verschwinden. Vögel gab es in Überfluß, vor allem Stelzvögel - Störche, Kraniche und Ibisse hockten in buntgefiederten Gruppen auf jedem Ast, der aus dem Wasser ragte. Und im Wasser wimmelte es von Fischen aller nur erdenklichen Farben und Formen. Drei Tage lang durchquerten wir diesen Tunnel mit seinem sanft grünen Licht. Auf längeren geraden Strecken konnte man kaum erkennen, wo das grüne Wasser endete und der Laubengang begann. Kein Zeichen menschlichen Lebens störte den tiefen Frieden dieses seltsamen Wasserlaufs.

»Hier sind keine Indianer«, sagte Gomez irgendwann. »Zu große Angst vor Curupuri.«

»Curupuri ist der Geist des Urwalds«, erklärte Lord John. »Er ist für die Eingeborenen eine Art Teufel. Sie glauben, daß dort, wo wir hinsteuern, etwas Fürchterliches lauert. Deshalb kommen sie nicht hierher.«

Am dritten Tag war allen klar, daß unsere Reise in den Kanus nicht mehr lange weitergehen konnte. Der Wasserlauf wurde immer flacher. Zweimal in zwei Stunden liefen wir auf Grund und saßen fest. Endlich zogen wir die Boote hinauf ins Gebüsch und verbrachten die Nacht am Flußufer. Am Morgen unternahmen Lord John und ich einen Erkundungsgang von einigen Meilen durch den Wald, wobei wir uns parallel zum Wasser hielten. Je weiter wir flußaufwärts kamen, desto niedriger wurde der Wassertand, und so kehrten wir um und berichteten, was Professor Challenger bereits vermutet hatte: daß wir von nun an unsere Kanus nicht weiter mitnehmen konnten. Wir zogen sie deshalb an Land, verbargen sie im Gebüsch und markierten einen Baum mit der Axt, um sie bei der Rückkehr wiederzufinden. Dann wurden die Lasten verteilt - Gewehre, Munition, Verpflegung, ein Zelt, Decken. Wir schulterten unsere Bündel und brachen zum beschwerlichsten Teil unserer Reise auf.

Ein unseliger Streit zwischen unseren beiden akademischen Hitzköpfen stand am Beginn dieses neuen Abschnitts. Zum Mißvergnügen Summerlees hatte Challenger seit dem Augenblick seines Auftauchens das Kommando über unsere kleine Truppe übernommen. Jetzt, als er seinem Kollegen auch eine kleine Aufgabe zuteilen wollte - es handelte sich lediglich um den Transport eines kleinen Vakuum-Barometers -, kam der angestaute Groll plötzlich zum Ausbruch.

»Darf man fragen«, sagte Summerlee mit unnatürlicher Ruhe, »mit welchem Recht Sie glauben, uns Befehle erteilen zu können?«

Challenger starrte ihn mit gesträubtem Bart an. »Das tue ich in meiner Eigenschaft als Leiter dieser Expedition, Professor Summerlee.«

»Ich fühle mich verpflichtet, Ihnen mitzuteilen, daß ich Sie in dieser Eigenschaft nicht anerkenne.«

»Tatsächlich!« Challenger verbeugte sich ironisch.

»Vielleicht hätten Sie die Güte, mir dann meine Rolle bei diesem Unternehmen zu erklären.«

»Jawohl, die Güte habe ich. Sie sind ein Mann, dessen Glaubwürdigkeit bezweifelt wird. Dieses Komitee ist hierhergekommen, Sie zu überprüfen. Sie befinden sich in der Gesellschaft Ihrer Richter, verehrter Herr Kollege.«