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Noch nie hat sich jemand in einer schlimmeren Lage befunden. Es wäre nutzlos, unsere genaue geografische Position anzugeben und unsere Freunde um Entsendung einer Rettungsexpedition zu bitten. Selbst wenn Hilfe käme, wäre aller menschlichen Voraussicht nach unser Schicksal schon lange vor ihrem Eintreffen besiegelt.

Wir sind von menschlicher Hilfe ebenso weit entfernt, wie wenn wir uns auf dem Mond befänden. Sollte es uns vergönnt sein, durchzukommen, so kann uns das nur aus eigener Kraft gelingen. Ich habe drei hervorragende Männer als Leidensgenossen, Männer mit gesundem Verstand und unerschütterlichem Mut. Solange ich auf die zuversichtlichen Gesichter meiner Kameraden blicke, erhellt sich die Finsternis für mich etwas. Ich kann nur hoffen, daß ich äußerlich ebenso unbekümmert wirke wie sie. Insgeheim aber bin ich voller Furcht.

Ich will jedoch die Ereignisse, die zu dieser Katastrophe geführt haben, der Reihe nach und in allen Einzelheiten erzählen. Mein letzter Brief schloß mit der Feststellung, daß wir sieben Meilen vor einer Linie rotbrauner Klippen lagerten, hinter denen zweifellos jenes Plateau liegt, von dem Professor Challenger erzählt hatte. Beim Näherkommen erschienen sie mir teilweise noch höher, als er angegeben hatte - einzelne Abschnitte ragten wenigstens tausend Fuß hoch auf, und waren auf eine sonderbare, meines Wissens für Basaltformationen charakteristische Art gestreift. Auf der Oberkante üppiger Pflanzenwuchs, mit Büschen dicht am Rande und vielen hohen Bäumen dahinter. Von Lebewesen war nichts zu sehen.

An diesem Abend schlugen wir unser Lager unmittelbar am Fuß der Klippen auf - an einer wüsten und verlassenen Stelle. Die Felsen über uns stiegen nicht nur senkrecht auf, sondern hingen stellenweise sogar über, so daß an ein Klettern nicht zu denken war. Ganz in unserer Nähe stand eine hohe dünne Felsenzinne. Sie wirkte wie ein roter Kirchturm. Ihre Spitze lag mit dem Plateau auf gleicher Höhe. Dazwischen aber gähnte ein tiefer Abgrund. Auf ihrer Spitze stand ein hoher Baum. Sowohl der Turm als auch der vor uns liegende Abschnitt der Klippen war verhältnismäßig niedrig - nach meiner Schätzung allenfalls fünf- bis sechshundert Fuß.

»Da droben«, sagte Professor Challenger und zeigte auf den Baum, »hockte der Pterodactylos. Ich bin den halben Felsen hinaufgeklettert, um ihn zu schießen. Es ist anzunehmen, daß ein guter Bergsteiger wie ich sich bis zur Spitze hinaufarbeiten kann. Damit käme er allerdings dem Plateau um keinen Schritt näher.«

Als Challenger von seinem Pterodactylos sprach, beobachtete ich Professor Summerlee. Zum erstenmal glaubte ich, gewisse Anzeichen für eine au&eimende Überzeugung und ein schlechtes Gewissen zu bemerken. Auf seinen dünnen Lippen fehlte das sonst ständig zur Schau getragene verächtliche Lächeln. Sein Gesicht war gespannt, erregt und erstaunt. Challenger merkte es natürlich sofort und kostete den Vorgeschmack seines Sieges voll aus.

»Natürlich«, sagte er spöttisch, »Professor Summerlee weiß, daß ich einen Storch meine, wenn ich von einem Pterodactylos spreche. Aber diese Art Storch hat keine Federn, sondern eine lederartige Haut, membranartige Flügel und Zähne im Schnabel.« Er grinste, zwinkerte und verbeugte sich, bis Professor Summerlee sich umdrehte und davonstapfte.

Am nächsten Morgen, nach einem kärglichen Frühstück, das nur aus Kaffee und Maniok bestand - wir mußten mit unseren Vorräten sparen -, hielten wir Kriegsrat und berieten, wie wir am besten auf das Plateau gelangen könnten.

Challenger führte den Vorsitz mit einer Feierlichkeit, als wäre er der Oberste Richter persönlich. Man muß ihn sich vorstellen, wie er auf einem Felsen thronte, seinen komischen Kinderstrohhut ins Genick geschoben. Seine hochmütigen Augen unter den gesenkten Lidern blickten auf uns herab, und sein großer Bart wackelte, während er uns bedächtig unsere gegenwärtige Lage und seine Pläne auseinandersetzte.

Zu seinen Füßen wir drei - ich, jung, sonnenverbrannt und von unserem Fußmarsch in frischer Luft gekräftigt. Summerlee, schweigsam, in den Dunst seiner unvermeidlichen Pfeife gehüllt. Lord John, scharf wie ein Rasiermesser, die elastische, wachsame Gestalt auf die Flinte gestützt, die Adleraugen aufmerksam auf den Sprecher geheftet. Hinter uns die beiden dunkelhäutigen Indianer, während vor uns die gewaltigen rotbraunen Felsklippen aufragten, die uns den Zugang zu unserem Ziel verwehrten.

»Ich brauche wohl nicht zu erwähnen«, sagte Professor Challenger, »daß ich damals auf jede mögliche Art versucht habe, die Klippen zu ersteigen. Ich hatte keinerlei Hilfsmittel für das Klettern im Fels bei mir, habe jedoch diesmal vorsorglich alles Notwendige mitgebracht. So bin ich sicher, diese einzelne Zinne bis zur Spitze ersteigen zu können. Da aber die Hauptklippen so weit überhängen, ist jeder Aufstiegsversuch an ihnen aussichtslos. Bei meinem letzten Besuch wurde ich durch die nahende Regenzeit zur Eile getrieben. Meine Zeit war begrenzt, und ich konnte die Klippen nur bis etwa sechs Meilen nach Osten hin untersuchen, aber keinen Weg nach oben finden. Was sollen wir demnach jetzt unternehmen?«

»Es scheint nur einen vernünftigen Weg zu geben«, sagte Professor Summerlee. »Wenn Sie den Osten erforscht haben, sollten wir am Fuß der Klippen nach Westen gehen und dort nach einem geeigneten Punkt für unseren Aufstieg suchen.«

»Ganz meine Meinung«, sagte Lord John. »Alles spricht dafür, daß dieses Plateau keine sehr große Ausdehnung hat. Wir werden an ihm entlanggehen, bis wir entweder einen leichten Weg nach oben entdecken oder an unseren Ausgangspunkt zurückkommen.«

»Ich habe unserem jungen Freund hier bereits erklärt«, sagte Challenger - er pflegt von mir zu sprechen, als ob ich ein zehnjähriges Schulkind wäre -, »daß es ausgeschlossen ist, irgendwo einen leichten Weg nach oben zu finden. Und zwar aus dem einfachen Grund, weil in diesem Falle das Plateau nicht von der Außenwelt abgeschnitten und damit die Voraussetzungen nicht gegeben wären, die dazu geführt haben, daß die allgemein gültigen Gesetze der Evolution außer Kraft gesetzt wurden. Ich gebe aber zu, daß es durchaus Stellen geben könnte, an denen ein tüchtiger Mann nach oben gelangen, ein schwerfälliges, riesiges Tier jedoch nicht herunterkommen könnte. Es ist sogar ganz sicher, daß es einen Punkt gibt, wo ein Aufstieg möglich ist.«

»Und woher wollen Sie das wissen?« fragte Summerlee scharf.

»Weil meinem Vorgänger, dem Amerikaner Maple White, ein solcher Aufstieg gelungen ist. Wie könnte er das Ungeheuer, das er in seinem Heft skizziert hat, sonst gesehen haben?«

»Da eilen Sie mit Ihren Schlußfolgerungen den bewiesenen Tatsachen aber weit voraus«, sagte der hartnäckige Summerlee. »Ihr Plateau erkenne ich an, weil ich es gesehen habe. Aber bisher habe ich mich noch keineswegs davon überzeugen können, daß es dort tierisches Leben in irgendeiner Form gibt.«

»Was Sie anerkennen und was Sie nicht anerkennen, mein lieber Herr Kollege, ist von unvorstellbar geringer Bedeutung. Ich freue mich allerdings, das gebe ich zu, daß Ihnen wenigstens das Plateau nicht entgangen ist.« Er deutete hinauf, sprang im selben Augenblick von seinem Felsblock, packte Summerlee am Genick und drehte ihm das Gesicht nach oben. »Da!« schrie er aufgeregt. »Sehen Sie jetzt nicht vielleicht mit eigenen Augen, daß es da droben tierisches Leben gibt?«

Aus dem dicken Saum grüner Vegetation, die über den Rand der Klippen hing, löste sich etwas dunkel Schillerndes, kam langsam weiter nach vorn und hing schließlich frei über dem Abgrund. Ich brauchte einen Moment, bis ich wußte, daß mich meine Augen nicht trogen. Es war eindeutig eine Schlange. Eine riesige Schlange mit einem plattgedrückten, spatenförmigen Kopf. Ungefähr eine Minute lang wand und ringelte sie sich über unseren Köpfen, dann glitt sie wieder zurück und war aus unserem Blickfeld verschwunden.