Summerlee, der wie hypnotisiert nach oben gestarrt hatte, schüttelte erst jetzt Professor Challengers Hände ab und plusterte sich sofort auf.
»Ich wäre Ihnen zu großem Dank verbunden, werter Herr Kollege«, sagte er, »wenn Sie Ihre Feststellungen in Zukunft verbal mitteilen und es unterlassen könnten, mich körperlich zu belästigen. Das plötzliche Auftauchen einer ganz gewöhnlichen Felspythonschlange rechtfertigt kaum ein derart flegelhaftes Benehmen.«
»Trotzdem gibt es da droben tierisches Leben«, sagte der Professor triumphierend. »Und da diese bedeutsame Tatsache nun bewiesen ist, schlage ich vor, daß wir das Lager abbrechen und nach Westen wandern, bis wir eine geeignete Aufstiegsmöglichkeit gefunden haben.«
Der Boden am Fuße der Klippen war felsig und uneben, und wir kamen nur langsam und unter Schwierigkeiten voran. Plötzlich stießen wir jedoch auf etwas, was unsere Herzen höher schlagen ließ. Es war ein verlassener Lagerplatz. Einige leere Büchsen einer Fleischfabrik aus Chicago lagen herum, eine leere Cognacflasche, ein abgebrochener Büchsenöffner und weitere Abfälle. Eine zerrissene, zerknitterte Zeitung ließ sich gerade noch als eine Ausgabe des Chicago Democrat identifizieren. Das Datum war leider nicht mehr feststellbar.
»Von mir stammt der Abfall nicht«, sagte Challenger. »Also stammt er von Maple White.«
Lord John, der damit beschäftigt gewesen war, den Baumfarn zu untersuchen, der den Lagerplatz beschattete, bat um unsere Aufmerksamkeit. »Schauen Sie sich das an«, sagte er. »Ich halte das für eine Wegmarkierung.«
Er deutete auf ein Stück Holz, das in einem nach Westen weisenden Winkel an den Stamm des Farns genagelt war.
»Natürlich ist das eine Wegmarkierung«, knurrte Professor Challenger. »Was denn sonst? Wenn man sich auf gefährlichen Pfaden befindet, hat man größtes Interesse daran, eventuell nachfolgenden Gruppen ein Zeichen zu hinterlassen. Vielleicht stoßen wir noch auf weitere Anhaltspunkte.«
Dies war der Fall, aber sie waren von schrecklicher und völlig unerwarteter Art. Der untere Rand der Felswand war von einem Bambusdickicht überwuchert, das dem glich, welches wir auf unserem Marsch hatten durchqueren müssen. Die Rohre waren bis zu zwanzig Fuß hoch und hatten scharfe, kantige Spitzen. Als wir an diesem Dickicht entlanggingen, fiel mein Blick zufällig auf etwas Weißes. Ich betrachtete es näher und mußte entsetzt feststellen, daß es sich um den Schädel eines Menschen handelte. Das Skelett, von dem er sich gelöst hatte, lag einen Meter weiter vom Wegrand entfernt.
Mit ein paar Machetehieben legten unsere Indianer die Stelle frei, und so konnten wir die Einzelheiten dieser lange zurückliegenden Tragödie studieren. Nur noch ein paar Stoffetzen waren zu erkennen, an den Fußknochen Reste von Stiefeln, an den Unterarmknochen hing eine Armbanduhr, Marke Hudson, New York. Wir fanden außerdem noch einen silbernen Drehbleistift und ein silbernes Zigarettenetui, auf dessen Deckel Für F. C. von A.E.S. eingraviert war.
»Wer das wohl gewesen sein mag?« sagte Lord John. »Armer Teufel. Jeder einzelne Knochen gebrochen.«
»Und der Bambus wächst zwischen seinen zerschmetterten Rippen durch«, stellte Professor Summerlee fest. »Er gehört zu den schnell wachsenden Pflanzen, aber ich kann mir nicht vorstellen, daß die Leiche schon so lange hier liegt, wie die Rohre gebraucht haben, eine Höhe von über zwanzig Fuß zu erreichen.«
»Bezüglich der Identität des Mannes gibt es für mich nicht den geringsten Zweifel«, sagte Professor Challenger. »Auf meinem Weg den Fluß hinauf zur Fazenda, wo ich zu Ihnen gestoßen bin, habe ich alle nur möglichen Ermittlungen über Maple White angestellt. In Para wußte niemand etwas. Zum Glück hatte ich einen festen Anhaltspunkt, denn in seinem Zeichenheft ist eine Skizze, die ihn beim Mittagessen mit einem Geistlichen zeigt. Aus der Randbemerkung unter der Skizze wußte ich, daß der Geistliche in Rosario lebt. Ihn zu finden war kein Problem, ihn zu besänftigen - ich hatte dummerweise angedeutet, daß die moderne Wissenschaft eine zersetzende Wirkung auf seinen Glauben habe - wie gesagt, ihn zu besänftigen war dagegen nicht so leicht. Wie dem auch sei, er hat mir schließlich doch sehr wertvolle Informationen geliefert.«
»Nämlich?« drängte ich.
»Hetzen Sie mich nicht, junger Mann«, tadelte mich der Professor. »Ich erfuhr, daß Maple White vor vier Jahren durch Rosario gekommen ist, also zwei Jahre bevor ich in dem Indianerdorf nur noch seinen Tod feststellen konnte. White war nicht allein, sondern in Begleitung eines Amerikaners namens James Colver, der jedoch auf dem Boot geblieben war, während White den Priester aufgesucht hatte. Ich glaube, es besteht also nicht der geringste Zweifel, daß das hier ...« - er deutete auf das Skelett - »die sterblichen Überreste dieses James Colver sind.«
»Und über die Art, wie er ums Leben gekommen ist«, sagte Lord John, »besteht meiner Meinung nach auch kein Zweifel. Er ist von den Klippen gestürzt oder über ihren Rand gestoßen worden. Daher die schrecklichen Knochenbrüche und die Bambusrohre zwischen seinen Gebeinen.«
Jedem von uns war klar, daß Lord John recht hatte. Beklommenes Schweigen folgte auf seine Worte. Eine unausgesprochene Frage quälte jeden einzelnen von uns. War James Colver das Opfer eines Unfalls geworden oder ...
Unheilvolle, schreckliche Vermutungen umwoben bereits das unerforschte Land, das zu erkunden wir uns vorgenommen hatten.
Schweigend setzten wir unseren Weg fort.
Auf den nächsten fünf Meilen sahen wir weder Riß noch Spalte in der Felswand. Dann jedoch stießen wir auf etwas, das uns mit neuer Hoffnung erfüllte. In einer von Regen und Witterung geschützten Höhlung entdeckten wir einen Kreidepfeil, der nach Westen zeigte.
»Wieder von Maple White«, sagte Professor Challenger. »Er scheint geahnt zu haben, daß man irgendwann seine Spur verfolgen wird.«
»Und wo hatte er die Kreide her?« fragte Professor Summerlee.
»Er hatte eine ganze Schachtel voll verschiedenfarbiger Kreiden bei sich«, erklärte Challenger. »Ich habe sie unter seinen wenigen Habseligkeiten gefunden und erinnere mich noch genau, daß die weiße bis auf einen kleinen Stummel abgenützt war.«
»Aha«, sagte Summerlee. »Dann scheint es mir angebracht zu sein, seine Anweisungen zu befolgen und weiter nach Westen vorzustoßen.«
Nach einer Strecke von weiteren fünf Meilen stießen wir auf den nächsten Kreidepfeil. Er war an einer Stelle auf den Felsen gemalt, wo dieser zum erstenmal aufgerissen war. Die Pfeilspitze deutete in die Spalte hinein und war leicht nach oben gerichtet.
Ein bedrückender Ort. Steile Felswände, weit oben ein schmaler Streifen Himmel, der durch überhängenden Pflanzenwuchs fast verdeckt war. Nur wenig Licht drang dadurch auf den Grund.
Wir hatten seit Stunden nichts gegessen und waren durch den Marsch über das felsige, unwegsame Gelände erschöpft, unsere Nerven waren jedoch so angespannt, daß wir uns noch keine Rast gönnen wollten. Wir befahlen daher den Indianern, das Nachtlager aufzuschlagen, während wir vier mit den beiden Mestizen zusammen in die enge Schlucht stiegen.
An ihrem Zugang war sie nicht breiter als vierzig Fuß, wurde bei jedem Schritt schmaler und endete schließlich in einem spitzigen Winkel aus nackten, glatten Felswänden, die unüberwindbar waren.
»Der Pfeil muß etwas anderes bedeuten«, sagte Lord John, und alles nickte nachdenklich.
Wir kehrten um und gingen zurück - die Felsspalte war kaum eine Viertelmeile tief -, als Lord John mit scharfem Blick das entdeckte, was wir suchten. Hoch über unseren Köpfen hob sich inmitten tiefer Schatten ein Kreis von einem noch tieferen Dunkel ab. Es konnte nur der Zugang zu einer Höhle sein.