Direkt darunter lag ein Haufen losen Gerölls. Wir kletterten hinauf, und der letzte Zweifel schwand. Wir befanden uns nicht nur vor dem Eingang einer Höhle, sondern entdeckten einen weiteren Kreidepfeil, der in das Innere der Höhle deutete.
Hier also waren Maple White und sein unglückseliger Freund James Colver in die Felswand eingestiegen.
Wir waren zu aufgeregt, um zum Lager zurückzukehren, und wollten sofort mit unseren Nachforschungen beginnen. Lord John hatte eine elektrische Taschenlampe im Rucksack, die uns als Lichtquelle genügen mußte. Er ging voran, während wir ihm auf den Fersen folgten.
Offenbar war die Höhle durch Wasser ausgespült worden. Ihre Wände waren glatt und der Boden mit runden Steinen bedeckt. Ein Mensch konnte gerade noch in gebückter Haltung hindurchkommen. Fünfzig Meter weit lief sie fast geradlinig in den Felsen hinein und stieg dann in einem Winkel von fünfundvierzig Grad an. Sehr bald wurde dieser Anstieg noch steiler, und wir krochen auf Händen und Knien über loses Geröll, das unter uns nachgab und abrutschte.
Plötzlich ein enttäuschter Ausruf von Lord John Roxton.
»Hier geht’s nicht weiter!«
Wir drängten uns hinter ihn und sahen im gelben Lichtschein der Taschenlampe eine Mauer aus zerbrochenem Basalt, die bis zur Decke reichte.
»Das Dach ist eingestürzt!«
Wir zerrten einige Brocken heraus. Der Erfolg war, daß sich größere Stücke lockerten und drohten, den Abhang herunterzurollen und uns zu zermalmen. Es wurde uns klar, daß wir mit unseren Mitteln nichts ausrichten konnten. Maple Whites Aufstieg konnten wir nicht mehr benutzen.
Niedergeschlagen und wortlos stolperten wir den dunklen Tunnel wieder hinab und machten uns auf den Weg zum Lager.
Ehe wir die Schlucht verlassen hatten, ereignete sich jedoch ein Zwischenfall, der im Hinblick auf die späteren Geschehnisse von Bedeutung war.
Wir hatten uns gerade auf dem Grunde der Schlucht versammelt, etwa vierzig Fuß unterhalb der Höhlenöffnung, als plötzlich ein gewaltiger Felsblock herabgerollt kam und mit unheimlicher Wucht an uns vorbeischoß. Er verfehlte uns nur um Haaresbreite. Woher er gekommen war, konnten wir nicht erkennen. Aber die Mestizen, die noch am Höhleneingang waren, sagten, daß er an ihnen vorbeigeflogen wäre und deshalb von oben heruntergefallen sein müßte.
Wir blickten hoch, konnten aber im Dschungel auf den Klippen keinerlei Bewegung entdecken. Trotzdem zweifelte niemand daran, daß der Steinbrocken uns gegolten hatte und sich demzufolge Menschen auf dem Plateau befinden mußten.
Wir zogen uns eilig aus der Schlucht zurück. Jeder hing seinen eigenen düsteren Gedanken nach. Die Lage erschien ohnehin schwierig genug. Wenn nun zu den natürlichen Hindernissen zu allem Überfluß noch menschlicher Widerstand hinzukam, war unsere Lage aussichtslos. Dennoch gab es nicht einen unter uns, der nach London zurückkehren wollte, bevor wir das Plateau restlos erforscht hatten.
Wir erörterten die Situation und kamen zu dem Schluß, am besten die Umgehung des Plateaus weiter fortzusetzen. Dabei hoffien wir, noch eine andere Möglichkeit zu entdek-ken, um hinaufzukommen. Die Klippen, die hier beträchtlich niedriger waren, bogen jetzt von Westen nach Norden ab. Wenn das Plateau rund war, konnte sein Gesamtumfang nicht allzu groß sein. Schlimmstenfalls würden wir in ein paar Tagen wieder an unseren Ausgangspunkt zurückkehren.
An diesem Tag marschierten wir insgesamt zweiundzwanzig Meilen, ohne etwas Neues zu entdecken. Der Höhenmesser zeigte an, daß wir uns nun dreitausend Fuß über dem Meeresspiegel befanden. Damit erklärte sich auch der Unterschied in Temperatur und Pflanzenwuchs. Die schreckliche Insektenplage, diesen Fluch der Tropen, waren wir endlich los. Vereinzelt ein paar Palmen, sonst Baumfarne. Die Riesenbäume des Amazonasgebiets lagen endgültig hinter uns. Inmitten dieser unwirtlichen Felsen blühten Passionsblumen und Begonien, die uns wie ein Gruß der Heimat erschienen.
An jenem Abend - ich spreche immer noch vom ersten Tag unserer Rundreise um das Plateau - erwartete uns noch ein bedeutendes Erlebnis. Ein Erlebnis, das endgültig den letzten Zweifel an den wunderbaren Dingen, die uns greifoar nahegerückt waren, beseitigte.
Wenn Sie dies lesen, lieber Mr. McArdle, werden Sie vielleicht zum erstenmal erkennen, daß es sich hier nicht etwa um ein fruchtloses Unterfangen handelt, sondern daß zugkräftige Schlagzeilen und ein zündender Bericht zu erwarten sind, sobald wir Professor Challengers Erlaubnis zur Veröffentlichung haben. Und ich werde diesen Artikel nur dann veröffentlichen, wenn es mir gelingt, stichhaltige Beweise mit nach England zu bringen. Ich möchte nicht in den Verruf kommen, Lügen zu verbreiten. Auch Sie werden den guten Ruf der Gazette wegen dieses Abenteuers nicht aufs Spiel setzen wollen, ehe wir dem Chor von Kritikern und Ungläubigen, der notwendigerweise laut würde, entsprechend begegnen können. Also muß diese Begebenheit, die ich jetzt schildern werde und die tolle Schlagzeilen machen könnte, noch in der Redaktionsschublade liegen bleiben.
Folgendes: Lord John hatte ein Ajouti geschossen - das ist ein kleines, unserem Schwein ähnliches Tier. Nachdem wir die Hälfte davon den Indianern gegeben hatten, kochten wir unsere Hälfte auf dem Feuer. Die Luft war nach Einbruch der Dunkelheit kühl, und wir waren alle nahe an die Flammen gerückt. Der Mond stand noch nicht am Himmel, aber im Schein der Sterne konnte man die Ebene ein kleines Stück weit überblicken. Plötzlich stieß etwas Riesiges schwirrend aus der Dunkelheit hernieder.
Unsere Gruppe saß für einen Augenblick unter einem Baldachin aus ledernen Flügeln. Ich hatte eine blitzartige Vision von einem langen, schlangenartigen Hals, einem wilden, gierigen, roten Auge und einem großen, zuschnappenden Schnabel, der zu meiner Überraschung mit kleinen, blinkenden Zähnen besetzt war. Im nächsten Augenblick war das unheimliche Wesen wieder fort - und mit ihm unsere Mahlzeit. Ein gewaltiger schwarzer Schatten von zwanzig Fuß Durchmesser schwang sich in die Luft hinauf. Einen Moment lang verdeckten die ungeheuren Flügel die Sterne, und dann verschwand es hinter dem Rand der Klippen über uns. Wir alle saßen wie erstarrt da und blickten uns erschrocken an. Summerlee fand als erster die Sprache wieder.
»Professor Challenger«, sagte er mit feierlicher Stimme, »ich muß Sie um Verzeihung bitten. Ich war sehr im Unrecht, und ich bitte Sie, das Vergangene zu vergessen.«
Die beiden Männer reichten sich zum erstenmal die Hand, was dem Erscheinen unseres ersten Pterodactylos zuzuschreiben war. Zwei solche Männer zusammenzuführen, war wohl mit einem gestohlenen Abendessen nicht zu teuer bezahlt.
Aber das vorgeschichtliche Leben, dessen Existenz auf dem Plateau für uns nun erwiesen war, konnte keineswegs im Überfluß vorhanden sein. Während der nächsten drei Tage bekamen wir nichts mehr davon zu Gesicht. In dieser Zeit durchquerten wir eine unfruchtbare und öde Gegend auf der Nord- und Ostseite der Klippen, die teils aus Felswüste, teils aus einsamen Moorflächen voller Wildvögel bestand. Hier war das Plateau bestimmt unzugänglich, und hätte es nicht direkt an der Basis der Felswand eine feste Kante gegeben, so hätten wir umkehren müssen. Mehrere Male steckten wir bis zum Gürtel im Schlamm eines Sumpfes. Obendrein schien dieser Ort ein beliebter Brutplatz der Jaracara-Schlange zu sein, der angriffslustigen und gefährlichsten Giftschlange Südamerikas. Immer wieder krochen und zischten diese schrecklichen Kreaturen über die Oberfläche des fauligen Morastes auf uns zu. Nur mit ständig schußbereit gehaltenem Gewehr fühlten wir uns vor ihnen einigermaßen sicher.
Eine trichterförmige, von faulendem Moos blaßgrün gefärbte Bodenvertiefung werde ich zeitlebens nicht vergessen. Sie muß ein besonders bevorzugter Aufenthaltsort dieses Natterngezüchts gewesen sein. Ihre Hänge wimmelten von Schlangen, die alle auf uns zugekrochen kamen. Es ist eine Eigenart der Jaracara, Menschen anzugreifen, ohne von ihnen auf irgendeine Art belästigt oder angegriffen worden zu sein. Zum Erschießen waren es zu viele. So ergriffen wir die Flucht und rannten, bis wir nicht mehr konnten. Nie werde ich vergessen, wie wir beim Zurückblicken noch weit hinter uns die Köpfe und Hälse unserer Verfolger zu Dutzenden auf- und niederwogen sahen. Auf unserer Karte bezeichneten wir diese Stelle als Jaracara-Sumpf.