»Ich blinder Idiot«, sagte er. »Allein durch meine Dummheit sind wir in diese Lage geraten. Ich hätte daran denken müssen, daß diese Leute ein gutes Gedächtnis haben, und hätte mehr auf der Hut sein müssen.«
»Und was ist mit den anderen? Einer allein kann doch unmöglich diesen Baum über die Kante gerollt haben.«
»Ich hätte ihn auch töten können, habe ihn dann aber doch laufen lassen. Vielleicht ist er unschuldig.«
Jetzt, da wir Gomez’ Motiv kannten, erinnerte sich jeder von uns an Einzelheiten seines hinterhältig-zutraulichen Benehmens - an seine ständigen Bemühungen, unsere Pläne zu erfahren, und seine heimtückischen, haßerfüllten Blicke, die uns jedesmal so erstaunt hatten. Wir sprachen darüber, bemüht, uns seelisch auf die neuen Verhältnisse einzustellen, aber plötzlich wurde unsere Aufmerksamkeit durch eine fast komisch wirkende Szene in der Ebene unter uns gefesselt.
Ein Mann in weißer Kleidung, der nur der überlebende Mestize sein konnte, rannte, als ob ihm der Tod im Nacken säße. Hinter ihm her, wenige Meter zurück, in riesigen Sätzen die ebenholzfarbene Gestalt Zambos, unseres treu ergebenen Negers. Zambo sprang dem Flüchtling auf den Rücken und schlang ihm die Arme um den Hals. Beide wälzten sich am Boden. Einen Augenblick darauf erhob sich Zambo, ignorierte den hingestreckten Mann, winkte uns fröhlich mit der Hand und kam auf uns zugerannt. Die weiße Gestalt blieb bewegungslos liegen.
Uns war jede Möglichkeit genommen, wieder zu der Felsnadel zurückzukommen. Die Verräter waren vernichtet, aber das Vermächtnis hatten sie uns hinterlassen. Wir waren auf das Plateau verbannt. Einen Weg zurück gab es nicht. Unter uns lag die Ebene, dahinter, jenseits des violetten, dunstigen Horizonts, floß der Strom, der in die Zivilisation zurückführte. Aber das Zwischenglied fehlte. Keine menschliche Erfindungsgabe konnte ein Hilfsmittel ersinnen, das den Abgrund überbrückte, der zwischen uns und unserer heimischen Welt aufgebrochen war. Ein einziger Augenblick hatte unsere gesamten Lebensbedingungen von Grund auf verändert.
Dies war aber auch der Augenblick, in dem ich erfuhr, aus welchem Holz meine drei Kameraden geschnitzt waren. Zwar wurden sie ernst und nachdenklich, behielten aber ihre ungebrochene Zuversicht. Gespannt warteten wir auf Zambos Erscheinen. Bald tauchte sein ehrliches schwarzes Gesicht über dem Felsen auf, und seine massige Gestalt schwang sich auf die Spitze der Zinne.
»Was ich jetzt tun?« rief er. »Sie mir sagen, und ich tun!«
Das war eine Frage, die leichter gestellt als beantwortet war. Nur eines stand fest. Er war unser einziges zuverlässiges Verbindungsglied zur Außenwelt. Er durfte uns unter keinen Umständen verlassen.
»Nein, nein«, rief er, als habe er unsere Gedanken erraten. »Ich Sie nicht verlassen. Was auch passieren, Sie mich immer hier finden. Aber ich nicht kann Indianer hier festhalten. Sie schon sagen, zu viel Curupuri hier. Und sie nach Hause gehen. Ich nicht können halten.«
Es stimmte, unsere Indianer hatten in letzter Zeit auf verschiedenste Art gezeigt, daß sie umkehren wollten. Wir wußten, daß Zambo die Wahrheit sagte und daß es für ihn unmöglich war, sie zurückzuhalten.
»Zwing sie, bis morgen zu warten, Zambo«, brüllte ich, »dann kann ich ihnen einen Brief mitgeben.«
»Gut, Herr! Ich versprechen, sie bis morgen warten«, sagte der Neger. »Aber was ich jetzt für Sie tun?«
Es gab eine Menge für ihn zu tun, und der treue Bursche erledigte alles gewissenhaft. Zuallererst löste er unter unserer Anleitung das Seil vom Baumstamm und warf uns das eine Ende herüber. Es war nicht dicker als eine Wäscheleine, aber sehr stark. Wenn wir es auch nicht als Brücke benutzen konnten, so mochte es uns doch unschätzbare Dienste leisten, falls wir noch irgendwelche Klettertouren zu bewältigen hatten. Dann befestigte er an seinem Seilende das Paket mit Verpflegung, das noch drüben lag, und wir konnten es zu uns herüberziehen. So hatten wir Lebensmittel für wenigstens eine Woche. Anschließend stieg Zambo hinunter und brachte eine Munitionskiste und etliche andere Sachen herauf; wir holten uns alles mit dem Seil herüber.
Als er endgültig abstieg, war es schon Abend. Zum Schluß versprach er nochmals, die Indianer bis zum nächsten Morgen aufzuhalten, und ich habe deshalb die ganze erste Nacht auf dem Plateau damit zugebracht, beim Schein eines Windlichts unsere Erlebnisse aufzuzeichnen.
Wir aßen zu Abend und lagerten dicht am Rande der Klippen; unseren Durst löschten wir mit zwei Flaschen Apollinaris, die in einer der Kisten lagen. Es ist lebenswichtig für uns, Wasser zu finden, aber keiner von uns war dazu aufgelegt, den ersten Vorstoß ins Unbekannte noch an diesem Abend zu unternehmen. Wir vermieden es, ein Feuer zu entfachen oder unnötig laut zu sein.
Morgen oder richtiger heute, denn der Morgen dämmert bereits, während ich dies schreibe, werden wir uns zum erstenmal in dieses merkwürdige Land hineinwagen. Wann ich wieder zum Schreiben komme - oder ob ich überhaupt jemals wieder schreiben werde -, weiß ich nicht. Im Augenblick kann ich nur sehen, daß die Indianer noch an ihrem Lagerplatz liegen, und ich bin sicher, daß Zambo gleich hier sein wird, um meinen Brief abzuholen. Hoffentlich kommt er gut an.
P.S. Je mehr ich darüber nachdenke, desto verzweifelter erscheint mir unsere Lage. Ich sehe keine Möglichkeit zur Rückkehr. Wenn es dicht am Rande des Plateaus einen hohen Baum gäbe, könnten wir vielleicht versuchen, wieder in umgekehrter Richtung eine Brücke zu schlagen. Aber im Umkreis von fünfzig Metern gibt es hier keinen. Und unsere vereinten Kräfte würden nicht ausreichen, einen großen Stamm herbeizuschleppen. Das Seil ist andererseits viel zu kurz, als daß wir daran absteigen könnten. Unsere Lage ist hoffnungslos - schrecklich und hoffnungslos!
10
Die wunderbarsten Dinge erlebt
Wir haben die wunderlichsten Dinge erlebt und erleben sie noch ständig. Alles Papier, das ich bei mir habe, besteht aus fünf alten Notizblöcken und einer Menge Zettel. Ich habe nur diesen einen Bleistift, aber solange ich die Hände bewegen kann, will ich fortfahren, unsere Erlebnisse und Eindrücke aufzuzeichnen. Da wir die einzigen Zeugen dieser Geschehnisse sind, halte ich es für äußerst wichtig, alles niederzuschreiben, ehe jenes Geschick, das beständig drohend über uns hängt, uns ereilt. Ob Zambo eines Tages diese Briefe zum Fluß bringen wird, ob ich selbst durch irgendein Wunder sie mitnehmen kann, ob später einmal ein mutiger Forscher unseren Spuren folgt und dieses Bündel Papiere findet - ich weiß es nicht. Auf alle Fälle bin ich überzeugt davon, daß diese Aufzeichnungen nicht verloren gehen werden.
Am ersten Morgen unserer Verbannung ereignete sich etwas, was wenig dazu geeignet war, meine Begeisterung über das Umland zu erhöhen. Als ich kurz nach Tagesanbruch durch einen heftigen Juckreiz aus kurzem Schlaf gerissen wurde, bemerkte ich etwas Seltsames an meinem linken Bein. Meine Hose war in die Höhe gerutscht, zwischen Aufschlag und Socken war eine Handbreit Haut entblößt, und genau da saß etwas, was wie eine dicke rote Traube aussah.
Erstaunt beugte ich mich nach vorn und wollte sie mir vom Bein streichen, als sie auch schon platzte und Blut in alle Richtungen verspritzte. Angewidert schrie ich auf und lockte damit die beiden Professoren herbei.