Lord John, der voranging, hob plötzlich die Hand und blieb stehen.
»Schauen Sie sich das an«, sagte er leise. »Die Spur eines riesigen Vogels.«
Die dreizehigen Abdrücke der Krallen waren in dem feuchten Untergrund klar zu erkennen. Die Kreatur hatte das Sumpfgebiet durchquert und war im Unterholz verschwunden. Wir inspizierten die Spur. Falls sie tatsächlich von einem Vogel stammte - und was hätte es sonst sein sollen -, waren seine Krallen um so vieles größer als die eines Straußenvogels, daß die Stelzen unvorstellbar hoch sein mußten.
Lord John spähte um sich und steckte zwei Patronen in seine Elefantenbüchse.
»Ich möchte wetten«, sagte er, »daß die Spur frisch ist. Das Tier ist noch keine zehn Minuten vor uns hier gewesen. Sie brauchen bloß zu beobachten, wie das Wasser in die tiefen Stellen sickert. Hoppla! Daneben ist ja noch eine Spur. Von einem kleineren Exemplar.«
Tatsächlich lief neben der Spur, die wir zuerst gesehen hatten, eine zweite, deren Abdrücke genau dieselbe Form hatten, aber kleiner waren.
»Und was schließen Sie daraus?« frage Professor Summerlee und deutete auf den Abdruck einer übergroßen, fünffingrigen Hand zwischen den Abdrücken der dreizehigen Krallen.
»Wealden«, sagte Challenger, der sich nur mit Mühe hatte dazu zwingen können, seine Donnerstimme zu dämpfen. »Solche Abdrücke habe ich schon in Kreideformationen gesehen. Die dazugehörige Kreatur geht aufrecht, hat drei-zehige Krallenfüße und Vorderpfoten mit fünf Fingern, die sie ab und zu zur Stütze benutzt. Das ist kein Vogel, mein lieber Roxton.«
»Sondern?«
»Ein Reptil. Ein Dinosaurier. Diese Spur kann von keiner anderen Kreatur stammen. Vor ungefähr neunzig Jahren will ein Professor, der in Sussex gelebt hat, eine solche Spur gesehen haben, aber es hat ihm natürlich niemand geglaubt. Wer hätte damals ahnen können, daß es diese Kreaturen eben doch gibt.«
Schweigend verfolgten wir die Fährte. Sie führte aus dem Sumpf in dichtes Unterholz. Dahinter eine Lichtung, an deren Rand wir stehenblieben und den Atem anhielten.
Auf der Lichtung befanden sich fünf der außergewöhnlichsten Kreaturen, die ich je gesehen habe.
Lord John befahl uns durch ein Zeichen, uns zu ducken. Hinter Büschen versteckt, beobachteten wir die Tiere.
Es waren, wie gesagt, fünf - zwei ausgewachsene und drei junge. Ihre Größe war enorm. Die Jungen hatten gut das Ausmaß von Elefanten, die Alten waren größer als alles, was ich aus dem Reich der Tiere kannte. Die schiefer-farbene Haut war wie die von Echsen geschuppt und glitzerte, wo die Sonne auftraf. Die Tiere hockten aufrecht auf ihren breiten, kräftigen Schwänzen und den dreizehigen Hinterbeinen, während sie mit den kurzen, fünffingrigen Vorderbeinen Äste herabbogen und die Blätter weideten. Wenn man durchaus einen Vergleich mit einem uns bekannten Tier anstellen will, so stelle man sich vor, daß diese Kreaturen wie sechs Meter große, monströse Känguruhs aussehen, die eine Haut wie schiefergraue Krokodile haben.
Wie lange wir die Tiere beobachtet haben, kann ich nicht sagen. Der Wind stand günstig, wir hockten hinter Buschwerk und riskierten nicht, bemerkt zu werden. Die Jungen gaben von Zeit zu Zeit das Fressen auf und tollten um die Alten herum, wobei sie ungelenk in die Luft sprangen und sich mit einem Plumpsen wieder auf den Boden fallen ließen. Die Kraft der Kreaturen schien grenzenlos zu sein. Wir konnten beobachten, wie eines der beiden ausgewachsenen Exemplare einen Baum von mittlerer Größe mit den Vorderpfoten aus dem Boden riß, als sei er ein Sprößling. Der Baum stürzte auf das Tier, dieses fiel um und stieß ein paar schrille Schreie aus.
Dieser Zwischenfall bewies, daß die Tiere zwar eine Riesenkraft, aber wenig Verstand besaßen; und das veran-laßte sie, den Ort, der sich für sie als gefährlich erwiesen hatte, zu räumen. Sie verzogen sich ins Unterholz, über das ihre häßlichen Köpfe herausragten.
Wir sahen ihnen nach, bis sie aus unserem Blickfeld verschwunden waren.
Jetzt erst erinnerte ich mich wieder daran, daß ich nicht allein war, und drehte den Kopf. Lord John stand regungslos da, den Finger am Abzug, den wachsamen Blick des Jägers auf die Stelle gerichtet, wo die Tiere verschwunden waren. Er hätte sicher viel darum gegeben, wenn er den Kopf einer derart seltenen Beute seiner Trophäensammlung hätte beifügen können. Aber er hatte sich beherrscht.
Die beiden Professoren waren so fasziniert, daß es ihnen die Rede verschlagen hatte. In ihrer Aufregung hatten sie sich gegenseitig an der Hand gepackt und standen da wie kleine Kinder vor dem Nikolaus: Challenger mit einem seligen Lächeln auf dem Gesicht und Summerlee in ehrfurchtsvoller Haltung.
»Sapperlott!« Professor Summerlee schüttelte nachdenklich den Kopf. »Ich bin gespannt, was sie zu Hause sagen, wenn sie das hören.«
»Mein lieber Summerlee«, meinte Professor Challenger, »das ist nicht schwer zu erraten. Sie werden sagen, daß Sie ein abgefeimter Lügner und wissenschaftlicher Scharlatan sind. Warum sollte es Ihnen besser gehen als mir?«
»Und wenn wir Fotos mitbringen?«
»Dann wird es heißen, daß sie gefälscht sind.«
»Wir können ja noch mehr Beweismaterial vorlegen.«
»Damit können wir sie vielleicht fangen. Vielleicht wird der Tag kommen, an dem Malone und seine widerwärtigen Kollegen unser Loblied singen. Heute ist der achtundzwanzigste August, der denkwürdige Tag, an dem wir fünf lebende Exemplare des Iguanodon in einer Lichtung des Maple-White-Landes gesehen haben. Vermerken Sie das in Ihrem Tagebuch, junger Mann, und geben Sie diese wichtige Information an Ihr Käseblatt weiter.«
»Und machen Sie sich gleichzeitig darauf gefaßt, daß Ihnen der Redakteur in den Hintern tritt«, setzte Lord John hinzu. »Vom Londoner Breitengrad aus betrachtet, sehen die Dinge etwas anders aus. Es gibt so manchen, der seine Abenteuer für sich behält, weil er nicht damit rechnen kann, daß man ihm glaubt. Aber kann man es ihnen verübeln? In einem Monat wird uns alles selbst wie ein Traum vorkommen. Wie sagten Sie, heißen diese Biester?«
»Man spricht vom Iguanodon«, antwortete Professor Summerlee. »Abdrücke dieser fossilen Riesenechsen sind in Hastings, Kent und Sussex zu finden. In Südengland muß es einmal von den Biestern nur so gewimmelt haben, als es noch genug saftiges Grünzeug gab. Aber die Bedingungen haben sich geändert, und sie sind ausgestorben. Hier scheinen die Lebensbedingungen ideal zu sein.«
»Wenn wir je lebend hier herauskommen«, sagte Lord John, »dann habe ich den Kopf von so einem Biest dabei, das schwöre ich Ihnen. Aber das dürfte jetzt zweitrangig sein, denn ich habe das ungute Gefühl, daß etwas in der Luft liegt.«
Auch ich hatte es seit einem Moment gespürt. Im Schatten der Baumkronen schien etwas Bedrohendes zu schweben. Furchtsam blickten wir hinauf. Die gräßlichen Kreaturen, die wir eben gesehen hatten, waren plumpe, faule Tiere, die nicht von sich aus angriffen und eher als friedlich zu bezeichnen waren, aber wer wollte wissen, ob in dieser Welt wundersamer Geschehnisse nicht wilde, grausame Lebewesen lauerten und darauf warteten, sich auf uns zu stürzen.
Ich hatte wenig Ahnung von vorgeschichtlichen Kreaturen, konnte mich aber genau an ein Buch erinnern, in dem solche Bestien beschrieben waren und in dem es hieß, daß sich gewisse Arten von ihren furchtlos auf Löwen und Tiger stürzten. Existierten auch sie in den Wäldern dieses seltsamen Landes?
Noch an diesem Tag, am ersten, den wir im Maple White Land verbrachten, sollten wir zu spüren bekommen, welche Gefahren uns umgaben. Es war ein schauderhaftes Abenteuer, an das ich voll Abscheu zurückdenke. Falls uns die Lichtung der Riesenechsen später, wie Lord John gesagt hat, wie ein Traumbild vorkommen wird, dann wird uns der Sumpf mit den Pterodactylen mit Sicherheit wie eine Szene aus einem Alptraum verfolgen.