»Das Problem des Abstiegs scheint auf den ersten Blick unlösbar«, sagte er, »ich bin jedoch überzeugt davon, daß man damit fertig werden kann. Ich bin bereit, meinem Kollegen zuzustimmen, daß ein längerer Aufenthalt auf dem Plateau gegenwärtig nicht empfehlenswert zu sein scheint und die Frage unserer Rückkehr demnächst geklärt werden muß. Ich lehne es jedoch entschieden ab, dieses Land zu verlassen, ehe wir es einigermaßen erforscht haben und eine Karte seiner groben Umrisse und Beschaffenheiten mit nach Hause bringen können.«
Professor Summerlee wehrte ungeduldig ab. »Zwei Tage haben wir schon damit vertrödelt, Erkundigungsmärsche zu unternehmen, und sind, was die geografische Beschaffenheit anbelangt, nicht schlauer als vorher. Daß das Plateau durchweg dicht bewaldet ist, steht fest. Wir würden Monate brauchen, um uns einigermaßen zu orientieren. Wenn es in der Mitte eine Art Erhebung geben würde, wäre das etwas anderes, aber bis jetzt haben wir doch nur in etwa feststellen können, daß das Land nach innen hin abfällt. Je weiter wir zur Mitte vordringen, desto weniger Aussichten haben wir, zu einem allgemeinen Überblick zu kommen.«
Und genau in dem Moment kam mir die Erleuchtung. Mein Blick fiel zufällig auf den Stamm des riesigen Gingkobaums, der seine weiten Äste über uns breitete. Wenn der Durchmesser seines Stammes alles übertraf, was wir bisher an Baumstämmen gesehen hatten, dann mußte das doch auch für seine Höhe gelten.
Wenn das Plateau von seinem Rand nach innen hin abfiel, so konnte uns doch dieser Baum als Aussichtspunkt dienen, von dem aus man möglicherweise ganz Maple-White-Land überblicken konnte.
An dieser Stelle muß ich einschieben, daß ich im Erklettern von Bäumen schon als Schulbub unübertroffen gewesen bin. Die beiden Professoren und Lord John mochten gute Bergsteiger sein, ich aber, das wußte ich, stand ihnen zumindest in nichts nach, was das Erklettern von Bäumen anbelangte. Wenn ich erst einmal einen der untersten Äste erreicht hatte, dann hätte es mich gewundert, wenn ich es nicht bis zur Spitze hinauf geschaffi hätte.
Die anderen waren von meiner Idee begeistert.
»Unser junger Freund«, sagte Professor Challenger und blähte die roten Backen, »wird immer einfallsreicher. Ich kann ihm nur gratulieren.«
»Allerdings!« rief Lord John und versetzte mir einen Schlag auf die Schulter. »Sie haben es erfaßt, Malone. Es ist mir unbegreiflich, daß wir nicht schon längst auf diese Lösung gekommen sind. In etwa einer Stunde wird es dunkel, aber für eine grobe Skizze reicht die Zeit. Los, stellen wir die drei Munitionskisten aufeinander, und schon sind Sie oben.«
Und einen Moment später war es der Fall. Während ich die flachen Hände gegen den Stamm gestützt hatte, hatte mich Lord John an den Fesseln gepackt und in die Höhe gestemmt, bis ich einen der untersten Äste hatte packen und mich an ihm in die Höhe hatte ziehen können.
Über mir drei Hauptäste, die mit ihrem Gewirr von Zweigen wie Leitern in die Höhe strebten. Ich kletterte so schnell nach oben, daß der Boden unter mir bald nur noch ein Ineinandergreifen von Grüntönen und ich ringsum von Laubwerk umgeben war. Da und dort geriet ich an ein Hindernis, mußte zum Beispiel über eine Strecke von gut zehn Metern hinweg an einer Schlingpflanze hochklettern, kam aber schnell voran, und Challengers Donnerstimme klang bald schon wie ein friedliches Grummeln unter mir. Trotzdem: Wenn ich nach oben blickte, immer noch keine Auftellung in dem Laub. Der Baum mußte eine unglaubliche Höhe haben.
An einem Ast, an dem ich mich gerade hocharbeitete, hing ein dicker Klumpen aus feinen Verästelungen, den ich für eine Schmarotzerpflanze hielt. Ich reckte den Kopf vor, um zu erspähen, was hinter dem Klumpen kam, und wäre vor Schreck und Entsetzen fast vom Baum gestürzt.
Ein Gesicht starrte mich an - aus einer Entfernung von höchstens ein bis zwei Fuß. Das Wesen, zu dem es gehörte, hatte hinter dem Busch gekauert und im gleichen Moment wie ich hervorgeblickt. Es war ein menschliches Gesicht, zumindest erschien es weit menschenähnlicher als das Gesicht eines Affen. Es war lang, weißlich und voller Warzen, die Nase platt, der Unterkiefer sprang weit vor und war am Kinn mit dicken, borstigen Stoppeln besetzt. Die Augen, die unter dichten, schweren Brauen hervorblickten, hatten einen bestialischen, grausamen Ausdruck. Als es den Mund öffnete, um mir etwas zuzuknurren, das sich wie ein Fluch anhörte, sah ich lange, gebogene Eckzähne. Einen Augenblick lang waren Haß und Drohung in den boshaften Augen, dann plötzlich ein Ausdruck panischer Angst. Äste krachten, und das seltsame Wesen tauchte im grünen Gewirr unter. Ich konnte noch einen letzten Blick auf einen rötlich behaarten Körper werfen, dann war es im Gestrüpp der Blätter und Zweige verschwunden.
»Was ist los?« brüllte Roxton von unten herauf. »Irgendwas nicht in Ordnung?«
»Haben Sie es nicht gesehen?« schrie ich, die Arme um den Ast geklammert und am ganzen Körper zitternd.
»Wir haben ein Knacken und Krachen gehört, als ob Sie abgerutscht wären. Was war das?«
Die plötzliche und seltsame Erscheinung dieses Affenmenschen war mir so in die Glieder gefahren, daß ich überlegte, ob ich wieder hinunterklettern und den anderen davon berichten sollte. Aber ich war schon so hoch droben in dem riesigen Baum, daß ich eine Umkehr vor Erfüllung meines Auftrages als Schande empfunden hätte.
So setzte ich also meinen Aufstieg fort, allerdings erst nach einer Pause, in der ich Atem geschöpft und neuen Mut gefaßt hatte. Einmal trat ich auf einen morschen Ast und hing für ein paar Sekunden nur an den Händen. Aber meistens war es ein leichtes Klettern. Allmählich wurde das Laub um mich dünner. Am Wind, der mir ins Gesicht blies, merkte ich, daß die anderen Bäume des Waldes längst unter mir lagen. Ich beschloß, mich nicht mehr umzusehen, bevor ich den allerhöchsten Punkt erreicht hatte. So arbeitete ich mich weiter hinauf, bis sich der oberste Ast unter meiner Last bog. Dort setzte ich mich in eine Gabelung, achtete auf mein Gleichgewicht und blickte hinab auf ein wundervolles Panorama.
Die Sonne stand über dem westlichen Horizont, der ausklingende Tag war besonders hell und klar, so daß ich das Plateau unter mir in seiner vollen Ausdehung überblicken konnte. Es war oval und etwa dreißig Meilen lang und zwanzig Meilen breit. Es glich einem flachen Trichter, dessen Wandungen zu einem mächtigen See im Zentrum abfielen. Dieser See mochte einen Umfang von zehn Meilen haben. Er leuchtete grün im Abendlicht. Ein dicker Schilfsaum umgab seinen Rand, seine Oberfläche war von mehreren gelben Sandbänken unterbrochen, die im Schein der untergehenden Sonne golden glänzten. Eine Anzahl dunkler Objekte, die für Alligatoren zu dick und für Kanus zu lang wirkten, lagen an den Rändern dieser Sandflächen. Mit meinem Fernglas konnte ich eindeutig erkennen, daß es sich um Lebewesen handelte.
Auf unserer Seite des Plateaus erstreckten sich bewaldete Hänge mit vereinzelten Lichtungen fünf bis sechs Meilen hinab zum See. Unmittelbar unter mir erblickte ich die Iguanodon-Wiese und etwas weiter entfernt eine Lücke in den Bäumen - den Sumpf der Pterodactylen.
Auf der gegenüberliegenden Seite bot das Plateau einen gänzlich anderen Anblick. Die äußeren Basaltklippen setzten sich dort zur Innenseite fort und bildeten eine etwa zweihundert Fuß hohe Mauer. Darunter lag ein waldiger Abhang. Am Fuß dieser roten Klippen, in einiger Höhe über dem Boden, konnte ich durch das Fernglas eine Anzahl dunkler Löcher erkennen, in denen ich Höhleneingänge vermutete. Etwas Weißes schimmerte in einer dieser Öffnungen, ich konnte aber nicht erkennen, was es war.
Ich saß und skizzierte das Land, bis die Sonne untergegangen war und ich in der Dunkelheit keine Einzelheiten mehr erkennen konnte. Dann kletterte ich hinab zu den anderen, die mich schon ungeduldig am Fuß des großen Baumes erwarteten. Jetzt war auch ich einmal der Held des Tages. Ich hatte die Idee gehabt, hatte sie allein in die Tat umgesetzt und die Kartenskizze gezeichnet, die uns einen Monat blinden Herumtappens inmitten unbekannter Gefahren ersparte.