Plötzlich kam mir ein Gedanke, der etwas Trost brachte. Ich war doch nicht ganz allein auf der Welt. Unten am Fuß der Klippen und in Rufweite wartete der treue Zambo. Ich ging zum Rand des Plateaus und blickte hinunter. Da hockte er auf seinen Decken neben dem Feuer in seinem kleinen Lager. Zu meiner Überraschung saß ihm ein zweiter Mann gegenüber. Einen Augenblick hüpfte mein Herz vor Freude. Ich dachte schon, einer meiner Kameraden wäre heil nach unten gelangt. Aber ein zweiter Blick zerstörte diese Hoffnung. Im Schein der aufgehenden Sonne leuchtete die Haut des Mannes rötlich auf. Er war ein Indianer.
Ich rief laut und schwenkte mein Taschentuch. Zambo sah sofort hoch, winkte mit der Hand und lief zur Felsenzinne. Kurz darauf stand er oben nahe bei mir und hörte sich bekümmert meine Geschichte an.
»Bestimmt der Teufel sie alle holen, Mr. Malone«, sagte er. »Sie gehen in Teufelsland, und er sie alle holen. Sie auf mich hören, Mr. Malone, und kommen schnell runter, sonst er Sie auch noch holen.«
»Aber wie denn?«
»Sie nehmen Kletterpflanzen von Bäumen und werfen zu mir. Ich binden fest an diesen Stumpf, dann Sie haben Brücke.«
»Geht nicht«, rief ich zu Zambo hinüber. »Es gibt hier keine Kletterpflanzen, die uns aushallen würden.«
»Schicken nach Seilen, Mr. Malone. Schicken nach Indianerdörfern, viele Lederriemen in Indianerdorf. Indianer unten, ihn hinschicken.«
»Wer ist der Mann?«
»Einer von unseren Indianern. Die anderen ihn auf den Kopf schlagen und nehmen Lohn weg. Er kommen zu uns zurück. Jetzt wollen nehmen Brief, bringen Seil - tun alles.«
Einen Brief abschicken! Warum nicht? Vielleicht konnte er Hilfe bringen. Wenn das nicht der Fall war, so war wenigstens dafür gesorgt, daß unsere Opfer nicht umsonst waren und die Nachricht von unseren Entdek-kungen London erreichte. Zwei abgeschlossene Briefe hatte ich schon fertig. Ich wollte diesen Tag nutzen, noch einen dritten zu schreiben, der meine jüngsten Erlebnisse bis zu dieser Stunde enthält.
Ich wies Zambo an, am Abend wiederzukommen, und verbrachte einen trübsinnigen einsamen Tag damit, meine Abenteuer seit der vergangenen Nacht niederzuschreiben. Außerdem verfaßte ich einen Hilferuf, der an irgendeinen weißen Händler oder Dampferkapitän, dem der Indianer begegnen mochte, gerichtet war. Ich bat darin, uns Seile zu schicken, da unser Leben davon abhinge. Diese Dokumente werfe ich Zambo am Abend hinüber, dazu meine Geldbörse mit drei Goldstücken. Sie sind für den Indianer bestimmt, und ich verspreche ihm doppelt soviel, wenn er mit Stricken zurückkommt.
Sie werden also jetzt verstehen, lieber Mr. McArdle, wie diese Botschaft zu Ihnen gelangt, und Sie werden ferner wissen, was passiert ist, falls Sie nie wieder etwas von Ihrem unglückseligen Korrespondenten hören. Heute abend bin ich zu müde und deprimiert, um noch irgendwelche Pläne zu schmieden. Morgen muß ich mir eine Möglichkeit einfallen lassen, wie ich nach den Spuren meiner unglückseligen Freunde suchen kann, ohne die Verbindung mit dem Lager zu verlieren.
13
Ein Anblick, den ich nie vergessen werde
Als an jenem trübseligen Abend die Sonne unterging, erblickte ich die einsame Gestalt des Indianers auf der weißen Ebene unter mir. Ich beobachtete ihn - unsere einzige schwache Hoffnung auf Rettung, bis er in den aufsteigenden Abendnebeln verschwunden war.
Als ich wieder in unser verwüstetes Lager zurückkehrte, war es bereits ganz dunkel, und mein letzter Blick galt dem Schein von Zambos Feuer, dem einzigen Lichtpunkt in der weiten Welt dort unten- dem einzigen Lichtblick auch für meine verdüsterte Seele. Und doch fühlte ich mich erleichtert, denn der Gedanke, daß die Welt erfahren würde, was wir hier erforscht hatten, war wenigstens tröstlich. Falls es uns vom Schicksal bestimmt war, daß wir nicht nach Hause zurückkehren sollten, so würden unsere Namen wenigstens in Verbindung mit dem Ergebnis unserer Bemühungen der Nachwelt überliefert.
Die Aussicht, in diesem verwüsteten Lager schlafen zu müssen, war bedrückend. Die Vorsicht riet mir, wach zu bleiben, aber mein erschöpfter Körper forderte unwiderstehlich sein Recht. Ich kletterte auf den untersten Ast des Gingkobaumes, fand aber keinen sicheren Sitz. Ich stieg also wieder herunter und überlegte.
Schließlich verschloß ich den Eingang der Hecke, entfachte drei Feuer, aß ein kräftiges Abendbrot und versank in tiefen Schlaf, aus dem ich auf sonderbare und höchst willkommmene Weise geweckt wurde. Am frühen Morgen, als der Tag eben anbrach, faßte eine Hand nach meinem Arm. Ich fuhr hoch, alle Nerven wie elektrisiert, griff nach meinem Gewehr und stieß einen Freudenschrei aus, als ich im kalten, grauen Licht Lord John neben mir knien sah.
Er war es - aber er war verändert. Ich kannte ihn beherrscht, korrekt und sorgfältig gekleidet. Jetzt war er bleich, hatte einen wilden Ausdruck im Blick und atmete wie jemand, der schnell und weit gelaufen ist. Sein hageres Gesicht war zerkratzt und blutig, seine Kleidung hing ihm in Fetzen herunter. Seinen Hut hatte er verloren. Ich starrte ihn erstaunt an, aber er ließ mir keine Zeit zum Fragen und wühlte in unseren Vorräten, während er sprach.
»Schnell, Malone, schnell!« rief er. »Jede Minute ist kostbar. Nehmen Sie diese zwei Gewehre und an Patronen, was Sie einstecken können. Die beiden anderen Gewehre habe ich schon. So, jetzt noch ein paar Lebensmittel. Ein halbes Dutzend Büchsen, das muß reichen. Nicht erst lange reden und überlegen. Los, weg von hier, sonst sind wir erledigt!«
Noch halb im Schlaf und unfähig zu begreifen, was das alles bedeuten sollte, jagte ich hinter ihm her, über jeder Schulter ein Gewehr und die Hände voll Proviant. Lord John lief durch das Unterholz, bis er an dichtes Gebüsch kam. Dort hinein stürzte er sich kopfüber, ohne auf die Dornen zu achten, und kroch weiter zur Mitte. Mich zerrte er neben sich.
»So!« keuchte er. »Ich denke, hier sind wir erst einmal in Sicherheit. Sie kommen todsicher zum Lager zurück. Aber hier werden sie uns kaum vermuten.«
»Was ist denn überhaupt los?« fragte ich, als ich wieder etwas zu Atem gekommen war. »Wo sind die Professoren? Und wer ist hinter uns her?«
»Die Affenmenschen!« keuchte er. »Mein Gott, was für Bestien! Sprechen Sie nicht so laut, sie haben empfindliche Ohren und gute Augen, aber keinen scharfen Geruchssinn, soweit ich es beurteilen kann. Ich glaube also nicht, daß sie uns hier aufspüren. Wo sind Sie gewesen, Malone? Sie können froh sein, daß Sie nicht dabei waren.«
In wenigen knappen Sätzen flüsterte ich ihm zu, was ich erlebt hatte.
»Donnerwetter!« sagte er, als ich geendet hatte. »Nicht ganz der Ort für eine Erholungskur, was? Aber auch ich hatte keine Ahnung, was hier alles möglich ist, bis diese Teufel über uns hergefallen sind. Ich war einmal in der Gewalt von menschenfressenden Papuas, aber das sind Waisenknaben im Vergleich zu dieser Bande.«
»Wie kam es denn zu dem Überfall?« fragte ich.
»Es war früh am Morgen. Unsere gelehrten Freunde waren eben aufgewacht und hatten noch nicht einmal angefangen, sich zu zanken. Auf einmal regnete es Affen. Wie die Äpfel fielen sie aus dem Baum. Sie müssen sich in der Dunkelheit versammelt haben, bis der große Baum über uns von ihnen wimmelte. Einen von ihnen habe ich in den Bauch geschossen. Aber ehe wir wußten, was hinten und vorne war, hatten sie uns schon aufs Kreuz gelegt.
Ich nenne sie Affen, aber sie hatten Stöcke und Steine in den Händen und schnatterten untereinander. Sie fesselten uns schließlich die Hände mit Schlingpflanzen, also sind sie jedem Tier, das mir bisher begegnet ist, weit überlegen. Affenmenschen sind sie, diese fehlende Bindeglieder der ^eorie Darwins. Ich wollte, sie fehlten immer noch! Sie haben ihren verwundeten Kollegen weggeschleppt - er hat wie ein Schwein geblutet, und dann haben sie sich um uns herumgesetzt. Aus ihren Gesichtern sprach die nackte Mordlust. Es waren große Kerle, so groß wie Menschen, aber stärker. Komische glasige graue Augen haben sie, unter roten Büscheln. Sie saßen einfach da und glotzten und glotzten. Challenger ist bestimmt kein Hasenfuß, aber sogar er war eingeschüchtert. Er schaffie es schließlich, sich auf die Beine zu stellen. Dann brüllte er sie an, sie sollten doch ruhig tun, was sie mit uns vorhätten. Dann hätten wir’s wenigstens hinter uns. Ich glaube, der unerwartete Überfall hat ihn ein Stückchen Verstand gekostet, denn er hat wie ein Wahnsinniger geschimpft und getobt. Vor seinen verhaßten Journalisten hätte er sich nicht schlimmer aufführen können.«