»Und alle zehn ...«
»Nein«, schnitt mir Lord John das Wort ab. »Gestern nur vier, die anderen haben sie sich für heute aufgehoben. Wir dachten natürlich, daß jeden Moment einer von uns an der Reihe ist, aber dem war nicht so. Auch uns haben sie sich für heute aufgehoben. Es ist denkbar, daß sie Challenger verschonen, aber Summerlee und ich stehen auf der Liste, da führt kein Weg daran vorbei.«
»Woher wollen Sie das denn wissen?« fragte ich.
»Ganz einfach«, antwortete Lord John. »Die Sprache der Affenmenschen besteht zur Hälfte aus Zeichen und ist daher leicht zu verstehen. Ich wußte also, daß es höchste Zeit war, mich aus dem Staub zu machen. Ich hatte schon die ganze Zeit überlegt und wußte eines mit Sicherheit: ich war total auf mich selbst gestellt, denn auf die beiden Professoren war absolut kein Verlaß mehr. Als sie während der ganzen Zeit einmal kurz zusammenkamen, hatten sie nichts Besseres zu tun, als sich gleich wieder zu streiten, weil sie sich über die wissenschaftliche Klassifizierung der Bestien, die uns gefangen hielten, nicht einig werden konnten.«
»Nicht zu fassen«, sagte ich kopfschüttelnd.
»Das kann man wohl sagen«, fuhr Lord John fort. »Der eine behauptete, die Affen gehörten zur Gattung Dryophithecus, die man auf Java gefunden hat, und der andere war überzeugt davon, daß sie dem Pithecanthropus zuzuordnen seien. Wahnsinn nenne ich das! Verrückt sind sie, der eine wie der andere! Wie dem auch sei, ich hatte mir zwei Dinge überlegt. Erstens, daß die Affen auf freiem Gelände nicht so schnell laufen können wie wir Menschen, denn sie haben kurze, krumme Beine und einen plumpen Körper. Selbst Challenger dürfte schneller sein, und bei ihm kann man auch nicht gerade von Hochbeinigkeit sprechen. Und meine zweite Überlegung war, daß diese Affen nicht mit modernen Waffen umzugehen wissen. Meiner Meinung nach haben sie nicht einmal begriffen, wie der Kerl, den ich angeschossen habe, zu seinem Loch im Wanst gekommen ist. Es stand also fest, daß es nur einen Ausweg aus dem Dilemma geben konnte - ich mußte an unsere Waffen herankommen.«
»Und dann?«
»Dann habe ich unserem Bewacher bei Tagesanbruch einen Tritt in die Magengrube versetzt, habe einen Kinnhaken hinterhergeschickt, ihn flachgelegt und bin getürmt.«
»Und die Professoren?«
»Die müssen wir jetzt aus der Gewalt der Affen befreien. Sie gleich mitzunehmen, war unmöglich. Challenger hockte auf dem Baum, und Summerlee hätte die Flucht nicht geschaffi. Er war der Anstrengung nicht gewachsen. Die einzige Möglichkeit war, die Gewehre zu holen und dann zu versuchen, sie zu befreien. Es ist natürlich möglich, daß sie vor Wut über mein Verschwinden massakriert wurden, wobei ich glaube, daß sie Challenger nichts tun, aber bei Summerlee bin ich mir nicht so sicher. Auf ihn hatten sie es von Anfang an abgesehen, also habe ich seine Lage durch meine Flucht nicht noch schlimmer gemacht, als sie bereits war. Es ist jetzt natürlich Ehrensache, daß wir uns zu dem Dorf schleichen und sie rausholen oder mit ihnen zusammen ins Gras beißen. Bereiten Sie sich also seelisch schon darauf vor, mein lieber Malone, denn eine andere Möglichkeit gibt es nicht.«
Ich habe mich bemüht, Lord Johns Sprechweise wiederzugeben, den halb schnoddrigen, halb scherzhaften Ton, der einen leicht vergessen lassen konnte, daß er die geborene Führernatur war. Sobald sich Gefahr zusammenballte, wurde seine Rede knapp und abgehackt, die kalten Augen leuchteten wachsam auf, der Schnurrbart, der mich immer an Don Quichotte erinnerte, schien vor Aufregung zu knistern. Seine Liebe zum Abenteuer, seine Tendenz, jedes Wagnis im Leben für eine Art Sport zu halten, machten ihn zu einem Kameraden, wie man sich ihn verläßlicher nicht hätte wünschen können. Wäre mir nicht die Angst um die Professoren im Nacken gesessen, ich hätte mich mit Vergnügen auf seiner Seite in das bevorstehende Abenteuer gestürzt.
Wir wollten uns gerade in unserem Versteck aufrichten, als er mich am Arm packte und zurückdrückte.
»Aufgepaßt!« flüsterte er. »Da kommen sie.«
Von der Stelle aus, an der wir hockten, fiel unser Blick durch eine Art Laubengang aus Baumstämmen und Zweigen, und genau durch diesen Gang kam eine Gruppe von Affenmenschen. Im Gänsemarsch kamen sie auf ihren krummen Beinen dahergewatschelt, den Rücken gebeugt, die Hände gelegentlich auf dem Boden schleifend. Ihre Köpfe ruckten hin und her, von rechts nach links und von links nach rechts. Durch den gebeugten Gang wirkten sie kleiner, als sie es in Wirklichkeit waren. Ich schätzte sie auf etwa fünf Fuß. Die meisten von ihnen waren mit Prügeln bewaffnet. Auf die Entfernung sahen sie wie haarige, mißgestaltete Menschen aus.
»Die lassen wir laufen«, flüsterte Lord John mir zu und senkte das Gewehr. »Wir müssen uns still verhalten, bis sie die Suche aufgegeben haben, und sie dann in ihrem Dorf überfallen. Wir warten noch eine Stunde, dann machen wir uns auf den Weg.«
Wir benutzten die Zeit dazu, eine Büchse zu öffnen und etwas zu essen. Lord John, der seit über vierundzwanzig Stunden nichts zu sich genommen hatte, verschlang Dreiviertel davon.
Und schließlich brachen wir auf, die Taschen voll Patronen, die Gewehre durchgeladen. Zur Vorsicht markierten wir das Versteck, um es notfalls wieder finden zu können. Schweigend pirschten wir durch das Unterholz, bis wir am Rand der Klippen, ganz in der Nähe unseres ersten Lagers waren. Hier hielten wir einen Moment an, und Lord John legte mir seinen Schlachtplan vor.
»Solange wir im Unterholz sind, sind uns die Affen überlegen«, sagte er. »Sie sehen uns, aber wir sehen sie nicht. Auf freiem Feld ist es umgekehrt. Da sind wir im Vorteil, weil wir schneller vorwärtskommen. Wir müssen uns also möglichst im offenen Gelände bewegen. Am Rande des Plateaus stehen nur vereinzelt hohe Bäume, folglich schleichen wir uns daran entlang. Gehen Sie langsam, halten Sie die Augen offen und das Gewehr schußbereit. Und das Wichtigste, Malone - lassen Sie sich um alles in der Welt nicht von ihnen gefangen nehmen, solange Sie noch eine Kugel im Lauf haben.«
Am Rand der Klippen angekommen, blickte ich hinunter. Unser guter schwarzer Zambo hockte direkt unter uns auf einem Felsblock und rauchte eine dicke Zigarre. Ich hätte etwas darum gegeben, ihn rufen und ihm sagen zu können, wie es um uns stand, aber das wäre zu gefährlich gewesen.
Um uns herum wimmelte es von scheußlichen Kreaturen. Immer wieder hörten wir ihr seltsames Schnattern, und immer wieder hechteten wir uns hinter einen Busch und rührten uns nicht, bis sie vorbei waren.
Wir kamen daher nur sehr langsam vorwärts, und zwei Stunden waren wenigstens verstrichen, bis ich plötzlich an Lord Johns vorsichtigen Bewegungen sah, daß wir am Ziel sein mußten. Er befahl mir durch ein Zeichen, mich zu ducken, während er weiterkroch.
Nach etwa einer Minute war er wieder zurück.
»Schnell!« zischte er. »Los, schnell. Ich bete zu Gott, daß wir nicht zu spät kommen.«
Ich zitterte vor Aufregung, als ich vorwärtskroch, mich neben ihn legte und zwischen den Büschen hindurch auf eine Lichtung spähte, die sich vor uns ausdehnte.
Es war ein Anblick, den ich nie vergessen werde, bis an meinen letzten Tag nicht - so unwirklich, so unfaßlich, daß ich nicht weiß, wie ich ihn beschreiben soll. Falls es mir vergönnt ist, noch einmal auf dem Sofa im Savage-Club zu sitzen und auf die eintönige Uferpromenade hinauszublicken, wird mir dies alles wie ein übler Traum, wie ein Fieberdelirium vorkommen. So will ich es jetzt aufschreiben, solange ich es noch frisch im Gedächtnis habe. Lord John, der an meiner Seite im feuchten Gras gelegen hat, wird bezeugen können, daß ich die Wahrheit sage.
Ein weiter freier Platz lag vor uns - einige hundert Meter im Durchmesser. Er reichte bis unmittelbar an den Rand der Klippen und war mit grünem Rasen und Farnbüschen bewachsen. Darum herum ein Halbkreis von Bäumen, in deren Zweigen, übereinandergebaut, merkwürdige Hütten aus Laub steckten. In den Eingängen der Hütten und auf den Asten der Bäume drängte sich eine dichte Menge von Affenmenschen, die ich wegen ihrer Größe für Frauen und Kinder des Stammes hielt. Sie bildeten den Hintergrund des Bildes und blickten mit gespanntem Interesse auf die Szene, die uns den Atem stocken ließ.