»Ja, mit Intelligenz«, warf Lord John ein.
Professor Challenger ignorierte die Bemerkung. »Was nun diese Indianer anbelangt«, fuhr er unbeirrt fort, »so besteht für mich kein Zweifel, daß sie erst später auf das Plateau gekommen sind. Von Hunger und dem Kampf ums Dasein getrieben, haben sie sich in das Maple-White-Land geflüchtet. Da sie hier wilde Tiere vorfanden, Ungeheuer von bisher nicht gekannter Scheußlichkeit und Brutalität, haben sie sich in Höhlen verschanzt - unser junger Freund hat die Lage dieser Höhlen beschrieben und sie mit eigenen Augen gesehen. Aber nicht nur monströse Ungeheuer zählten zu den Feinden der Neuankömmlinge, sondern auch die Affenmenschen, die jene als Eindringlinge betrachteten und einen erbitterten Kampf gegen sie führten und noch führen. Einen Kampf, der mit einer Schläue geführt wird, zu der die Ungeheuer nicht fähig sind. Und damit dürfte wohl auch ihre begrenzte Anzahl erklärt sein. Die der Indianer, meine ich natürlich. Habe ich mich verständlich ausgedrückt, meine Herren, oder sind noch irgendwelche Erklärungen nötig?«
Professor Summerlee war zu erschöpft, um das übliche Streitgespräch anzuzetteln, und schüttelte lediglich mißbilligend den Kopf, während Lord John erklärte und sich dabei am Kopf kratzte, daß dies nicht seine Gewichtsklasse sei und er daher auf einen Kampf verzichte.
Und ich, ich war wieder einmal derjenige, der den Dingen durch seine prosaische und praktische Art die plötzliche Wende gab. Diesmal mit der Feststellung, daß einer der Indianer verschwunden war.
»Erholt vielleicht bloß Wasser«, sagte Lord John. »Eine der leeren Büchsen fehlt - das ist der Beweis.«
»Wo holt er Wasser?« fragte ich. »Etwa in unserem Lager?«
»Nein, vom Bach. Er ist bloß ein paar hundert Meter von hier entfernt. Aber er läßt sich Zeit, stelle ich fest.«
»Ich sehe mal lieber nach«, sagte ich, nahm mein Gewehr und ging.
Es mag unbesonnen erscheinen, daß ich die Deckung unseres Dickichts aufgab, und sei es auch nur für ein so kurzes Stück. Man muß jedoch bedenken, daß wir viele Meilen vom Affendorf entfernt waren, die Bestien offenbar unseren Schlupfwinkel noch nicht entdeckt hatten und ich mit meinem Gewehr in der Hand keine Angst vor ihnen zu haben brauchte.
Nach kurzer Zeit schon hörte ich das Gemurmel des Bachs, aber ein Gestrüpp aus Bäumen und Buschwerk verdeckte ihn noch. An einer Stelle, die eben außerhalb des Gesichtsfeldes meiner Gefährten lag, bahnte ich mir einen Weg hindurch. Plötzlich bemerkte ich etwas Rotes, das zusammengekrümmt zwischen den Büschen lag. Als ich näher herankam, stellte ich voller Schrecken fest, daß es die Leiche des vermißten Indianers war. Er lag auf der Seite, die Knie an den Leib gezogen, den Kopf unnatürlich verdreht, so daß er über seine eigene Schulter zu blicken schien.
Ich rief nach meinen Freunden, rannte vorwärts und beugte mich über den Toten. Mein Schutzengel muß in diesem Augenblick ganz in meiner Nähe gewesen sein, denn irgendeine instinktive Furcht oder vielleicht auch ein leises Rascheln in den Blättern ließ mich hochblicken. Aus dem dichten, grünen Laub über meinem Kopf kamen langsam zwei lange muskulöse, mit roten Haaren bedeckte Arme herab. Noch einen Augenblick länger, und die großen Hände hätten meine Kehle umklammert. Ich sprang zurück, aber so schnell ich auch reagierte, die Hände waren noch flinker. Wohl verfehlten sie durch meinen plötzlichen Sprung ihren tödlichen Griff, aber die eine packte mich im Genick und die andere am Gesicht. Ich riß die Hände empor, um meine Kehle zu schützen. Im nächsten Moment war die riesige Pfote von meinem Gesicht auf den Hals herabgeglitten. Mühelos wurde ich vom Boden hochgehoben und fühlte, wie ein unwiderstehlicher Druck meinen Kopf weiter und weiter nach hinten zwang, bis die Spannung meiner Halswirbel unerträglich wurde. Mit letzter Kraft zerrte ich an der würgenden Hand und konnte sie von meinem Kinn wegdrücken. Ich blickte hoch und sah in ein furchtbares Gesicht mit erbarmungslosen hellblauen Augen, die derart hypnotisch auf mich wirkten, daß ich mich plötzlich nicht mehr wehren konnte. Als die Bestie spürte, wie ich in ihrem Griff erschlaffie, blitzten zwei weiße Fangzähne zu beiden Seiten des scheußlichen Mauls auf. Der Druck auf mein Kinn verstärkte sich von neuem. Dünne, farbige Nebel schillerten vor meinen Augen, und in meinen Ohren klingelten silberhelle Glöckchen. Undeutlich hörte ich aus weiter Ferne einen Schuß krachen und spürte, wie ich fiel und auf den Boden aufschlug, wo ich besinnungslos liegenblieb.
Als ich wieder zu mir kam, lag ich in unserem Versteck. Jemand hatte Wasser vom Bach geholt, und Lord John benetzte mir die Stirn, während mir Challenger und Summerlee mit besorgten Gesichtern den Kopf stützten. Für einen Moment tat ich einen Blick in die menschlichen Seelen hinter den wissenschaftlichen Masken. Es war mehr der Schock als eine wirkliche Verletzung, was mich umgeworfen hatte, und schon nach einer halben Stunde konnte ich mich - wenn auch mit schmerzendem Kopf und steifem Nacken - wieder aufsetzen.
»Mein lieber Malone, Sie sind gerade noch mal davongekommen«, sagte Lord John. »Als ich Ihren Schrei hörte, angerannt kam und den halb verdrehten Kopf und Ihre zappelnden Beine sah, dachte ich schon, wir wären einer weniger. In meiner Aufregung habe ich das Biest verfehlt, aber es hat Sie wenigstens losgelassen und war weg wie der Blitz. Verflixt! Wenn wir fünfzig Mann mit Gewehren hier hätten, ich würde die verdammte Bande ausräuchern und dieses Land gesäuberter verlassen, als wir es angetroffen haben.«
Es stand nun fest, daß die Affenmenschen uns aufgespürt hatten und wir von allen Seiten beobachtet wurden. Während des Tages hatten wir nicht viel zu befürchten, aber im Dunkeln würden sie über uns herfallen. Je eher wir also aus ihrer Nachbarschaft verschwanden, desto besser. Auf drei Seiten waren wir von dichtem Wald umgeben, dort konnten wir in einen Hinterhalt geraten. Auf der vierten Seite aber - die zum See hin abfiel - gab es nur niedriges Unterholz und vereinzelte Bäume, dazwischen gelegentlich eine Wiese. Dort entlang lief auch der Weg, den ich auf meiner nächtlichen Wanderung genommen hatte. Er führte uns direkt auf die Höhlen zu. Alles sprach also dafür, diese Richtung einzuschlagen.
Unser altes Lager gaben wir höchst ungern auf - nicht allein der Vorräte wegen, sondern vor allem, weil wir die Verbindung zu Zambo verloren. Munition war ausreichend vorhanden, jeder war noch im Besitz seines Gewehrs, und das war wenigstens beruhigend. Irgendwann, und das hoffentlich bald, würden wir zum Fort Challenger zurückkehren und den Kontakt mit dem Schwarzen wieder aufnehmen können. Er hatte fest versprochen, zu bleiben wo er war, und keiner zweifelte an seinen Worten.
Am frühen Nachmittag brachen wir auf. Der junge Häuptling ging voran und zeigte uns den Weg. Er hatte es kategorisch abgelehnt, irgendwelche Lasten zu tragen. Hinter ihm kamen die beiden anderen überlebenden Indianer mit unseren spärlichen Habseligkeiten auf dem Rücken. Wir vier Weißen gingen mit geladenen und schußbereiten Gewehren als letzte. Bei unserem Auforuch erhob sich in den dichten Wäldern hinter uns plötzlich ein lautes Geheul, das ebensogut Triumphgeschrei wie Hohngelächter über unsere Flucht sein mochte. Als wir uns umblickten, sahen wir nur die dichte Wand der Bäume. Aber dieses Gebrüll sagte uns deutlich genug, wie viele unserer Feinde dahinter lauerten. Die Affen machten jedoch keine Anstalten, uns zu verfolgen, und wir waren bald im freien Gelände und außerhalb ihres Machtbereichs.