Trotz der Gefahr seitens der Dinosaurier bin ich in den vergangenen drei Wochen zweimal nachts zu unserem alten Lager hinübergegangen, um mit unserem Neger zu sprechen. Er hielt immer noch die Stellung unterhalb der Klippen. Angespannt spähten meine Augen über die weite Ebene in der Hoffnung, vielleicht in der Ferne die ersehnte Hilfe nahen zu sehen. Aber kahl und leer dehnten sich die unendlichen, kakteenbewachsenen Flächen bis an die ferne Linie des Bambusgestrüpps aus.
»Jetzt müssen Sie bald kommen, Mr. Malone. Ehe noch eine Woche vergehen, Indianer kommen zurück und bringen Seil und holen Sie runter.«
So lauteten jeweils die ermunternden Zurufe unseres treuen Zambo.
Als ich von meinem zweiten Besuch bei Zambo zurückkam - ich war die ganze Nacht weg gewesen -, ereignete sich etwas Seltsames.
Ich war ungefähr noch eine Meile vom Sumpf der Pterodactylen entfernt, als ich plötzlich eine merkwürdige Gestalt auf dem mir inzwischen wohlbekannten Weg entgegenkommen sah. Es war die Gestalt eines Menschen, der von einem korbähnlichen Geflecht aus dünnen Bambusrohren umgeben war, aus dem lediglich die Beine herausragten. Beim Näherkommen glaubte ich, meinen Augen nicht zu trauen: es war Lord John Roxton. Als er mich sah, schlüpfte er unter seiner komischen Schutzhülle hervor und kam lachend, aber gleichzeitig etwas verwirrt auf mich zu.
»So eine Überraschung«, sagte er. »Wer hätte gedacht, daß wir uns hier begegnen?«
»Was um alles in der Welt haben Sie denn vor?« fragte ich verdutzt.
»Ich will meine Freunde, die Pterodactylen, besuchen«, antwortete er.
»Und wieso das?«
»Weil sie höchst interessante Tiere sind, finden Sie nicht auch? Aber ungesellig. Ungehobelte rauhe Manieren Fremden gegenüber, wie Sie sich wahrscheinlich erinnern werden. Ich habe mir diese Rüstung gebastelt, damit sie mich nicht so herumschubsen können.«
»Trotzdem begreife ich nicht, was Sie da unten in dem Sumpf wollen.«
Lord John sah mich fragend an und zögerte einen Moment lang, bevor er antwortete.
»Nicht nur Professoren sind von Forscherdrang beseelt, mein lieber Malone«, sagte er schließlich. »Ich will mir diese reizenden Tierchen etwas genauer ansehen, und das sollte Ihnen genügen.«
»Verzeihen Sie, ich wollte nicht aufdringlich sein«, sagte ich hastig.
In dem Moment fand Lord John wieder zu seiner sonst üblichen guten Laune zurück, und er lachte.
»Schon gut, Malone. Ich will eines von den Biestern - ein ganz junges natürlich - für Challenger fangen. Das ist ein weiterer Grund. Nein, Sie sollen mich nicht begleiten. Also - bis dann. Bei Einbruch der Dunkelheit bin ich wieder zurück.«
Damit schlüpfte er wieder in seine Rüstung und marschierte weiter.
Wenn Lord Johns Betragen merkwürdig gewesen war, so konnte man das von Professor Challengers Betragen erst recht behaupten. Ich muß an dieser Stelle erzählen, daß er offensichtlich eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf die indianischen Frauen ausübte und deshalb immer mit einem Palmenwedel bewaffnet war, mit dessen Hilfe er sie wie lästige Fliegen verscheuchte.
Ich werde nie vergessen, wie er an jenem frühen Morgen wie ein Operettensultan einherstolzierte, das Zeichen seiner Würde in der Hand, den Bart gesträubt, die Fußspitzen bei jedem Schritt gerade nach vorn gerichtet und einen Schwarm von Indianerfrauen mit großen, glühenden Augen und spärlichen Gewändern aus Baumrinde hinter sich her. Alle paar Meter fuhr er herum und zischte wie ein erboster Gänserich, aber ohne Erfolg.
Und Professor Summerlee, von diesem morgendlichen Spaziergang seines Kollegen völlig unbeeindruckt, saß am Rande des Geschehens und widmete sich der Betrachtung von Insekten und Vögeln, einer Beschäftigung, mit der er den Tag verbrachte, wenn er nicht gerade Challenger Vorwürfe machte, weil dieser immer noch keine Möglichkeit gefunden habe, diesen Zwangsaufenthalt zu beenden.
Challenger war in den letzten Tagen allmorgendlich allein weggegangen und meistens mit der gewichtigen Miene eines Mannes zurückgekommen, der die ganze Last der Verantwortung allein auf den Schultern trägt. Eines Morgens forderte er uns auf, mitzukommen. Den Palmenwedel in der Hand, den Schwarm von Anbeterinnen auf den Fersen, führte er uns zu seiner verborgenen Werkstatt und weihte uns in seine Pläne ein.
Der Schauplatz war eine kleine Lichtung inmitten eines Palmenhains. Hier befand sich jener brodelnde Schlammgeysir, den ich schon beschrieben habe. Daneben lag eine Anzahl von Riemen, die aus einer Iguanodonhaut geschnitten waren, und ein großer Sack - der getrocknete Magen einer Fischechse, wie sich herausstellte. Der Sack war am einen Ende zugenäht, am anderen war eine kleine Öffnung gelassen worden. In dieser Öffnung steckten mehrere Bambusrohre, deren anderes Ende Challenger jetzt in die trichterförmigen Vertiefungen bohrte, aus denen das Gas des Geysirs austrat.
Es dauerte nicht lange, dann glätteten sich die schlaffen Wände des Sacks und schwollen an. Als es den Anschein hatte, als wolle der Sack in die Höhe schweben, band Challenger die Riemen, die daran befestigt waren, wie ich jetzt erst merkte, an Baumstämmen fest. Innerhalb von etwa dreißig Minuten hatte sich ein stattlicher Gasballon gebildet. Der Zug an den Riemen ließ erkennen, daß der Auftrieb beachtlich war.
Challenger stand stolz lächelnd neben seiner Erfindung, strich sich wohlgefällig den Bart und war die Selbstzufriedenheit in Person.
»Sie wollen aber doch hoffentlich nicht von uns verlangen, daß wir mit dem Ding da davonfliegen sollen?« sagte Summerlee mit eisiger Stimme.
»Ich verlange gar nichts, werter Herr Kollege«, entgegne-te der Professor. »Ich will Ihnen lediglich vorführen, welche Kraft der von mir erdachte und gefertigte Flugkörper besitzt. Anschließend, daran zweifle ich keine Sekunde, werden Sie sich ihm bedenkenlos anvertrauen.«
»Das können Sie sich gleich aus dem Kopf schlagen, mein Lieber«, sagte Summerlee im Brustton der Überzeugung. »Keine zehn Pferde bringen mich dazu, eine solche Dummheit zu begehen. Lord John, ich nehme doch an, daß Sie einen derartigen Blödsinn nicht unterstützen.«
»Ein genialer Einfall«, sagte der Edelmann. »Ich bin wirklich gespannt, ob das System auch funktioniert.«
»Es wird funktionieren, da können Sie Gift darauf nehmen«, sagte Challenger. »Seit Tagen zerbreche ich mir den Kopf, wie wir von diesen Klippen wieder herunterkommen. Daß es keinen Tunnel gibt, der nach unten führt, und wir nicht hinunterklettern können, steht fest. Ebenfalls, daß wir keine Brücke zu der Zinne hinüber konstruieren können. Was also dann? Vor einiger Zeit habe ich unseren jungen Freund hier darauf aufmerksam gemacht, daß aus den Geysiren freier Wasserstoff ausströmt. Die Idee, einen Ballon zu konstruieren, war also naheliegend. Ich hatte einige Schwierigkeiten, das gebe ich zu, das Problem des Ballons selbst zu lösen, aber wie Sie sehen, habe ich auch diese Schwierigkeit überwunden. Köpfchen muß man eben haben. Hier das Resultat meines Denkprozesses.«
Er hakte den Daumen in einen Riß seines zerschlissenen Jacketts und deutete stolz auf seine Erfindung.
»Ein Hirngespinst ist das, weiter nichts«, maulte Summerlee.
Doch Lord John war begeistert. »Ein schlauer Fuchs, was?« flüsterte er mir zu und wandte sich an Challenger. »Und worin findet die Reise statt?« fragte er.
»Darum kümmere ich mich jetzt anschließend«, antwortete der Professor. »Die Pläne für Herstellung und Befestigung habe ich bereits im Kopf. Aber erst will ich Ihnen einmal beweisen, daß mein Flugkörper funktioniert.«
»Und uns alle miteinander in die Lüfte hebt?« fragte Summerlee spöttisch.