DIE NEUE WELT
GROSSE VERSAMMLUNG IN DER QUEEN’S HALL
CHAOTISCHE SZENEN
AUSSERGEWÖHNLICHER ZWISCHENFALL
NÄCHTLICHER AUFLAUF IN DER REGENT STREET
(Sonderbericht)
Die vieldiskutierte Tagung des Zoologischen Instituts, die einberufen wurde, um den Bericht der Prüfungskommission entgegenzunehmen, die im vergangenen Frühjahr nach Südamerika entsandt wurde, um die Behauptungen Professor Challengers zu überprüfen, fand am vergangenen Abend in der großen Queens Hall statt. Man darf getrost sagen, daß dieses Datum in die Geschichte der Wissenschaft eingehen wird, denn der Ablauf des Abends gestaltete sich derart bemerkenswert und sensationell, daß keiner der Anwesenden ihn wohl je vergessen wird.
Die Eintrittskarten waren theoretisch auf Mitglieder des Instituts und deren Freunde beschränkt. Aber letzteres ist ein dehnbarer Begriff. Schon lange vor acht Uhr, der für den Beginn festgesetzten Zeit, war die Halle gedrängt voll. Die Öffentlichkeit, wütend darüber, ausgeschlossen zu sein, stürmte in ihrer Unvernunft um Viertel vor acht die Eingänge. Hierbei wurden mehrere Personen verletzt, darunter auch Inspektor Scoble von der Ordnungsabteilung, der sich unglücklicherweise ein Bein brach. Nach dieser unverantwortlichen Invasion, die nicht nur alle Gänge verstopfte, sondern auch vor den für die Presse reservierten Bänken nicht haltmachte, dürften es an die fünftausend Menschen gewesen sein, die das Erscheinen der Forschungsreisenden erwarteten. Auf dem Podium hatten die führenden Wissenschaftler unseres Landes, Frankreichs und Deutschlands Platz genommen. Schweden war ebenfalls vertreten, und zwar durch Professor Sergius, den berühmten Zoologen der Universität Uppsala.
Als die vier Helden des Tages den Saal betraten, erhob sich die gesamte Zuhörerschaft von den Plätzen und jubelte ihnen minutenlang zu. Ein scharfer Beobachter jedoch konnte zwischen dem allgemeinen Applaus vereinzelt Mißfallenskundgebungen heraushören und voraussagen, daß das Programm einen eher lebhaften als harmonischen Verlauf nehmen würde. Man darf jedoch getrost behaupten, daß niemand die außerordentliche Wendung hätte voraussehen können, die dann tatsächlich eintreten sollte.
Über die äußere Erscheinung der vier Reisenden braucht nur wenig gesagt zu werden, da ihre Fotografien in den letzten Tagen durch die Presse gegangen sind. Sie zeigen kaum Spuren der Entbehrungen, die sie durchgemacht haben sollen, Professor Challengers Bart ist vielleicht struppiger, Professor Summerlees Gesicht noch asketischer und Lord John Roxtons Gestalt etwas hagerer. Alle drei sind tief gebräunt von der Sonne. Jeder einzelne schien sich bester Gesundheit zu erfreuen. Was unseren eigenen Vertreter betriffi, den bekannten Sportsmann und internationalen Fußballspieler E. D. Malone, so wirkt er durchtrainiert bis auf die Knochen. Während er über die Menge hinblickte, erschien ein gutmütig-zufriedenes Lächeln auf seinem ehrlichen, offenen Gesicht.
Nachdem Ruhe eingetreten war und das Publikum seine Plätze wieder eingenommen hatte, hielt der Vorsitzende, der Herzog von Durham, eine Ansprache. Er wolle, sagte er, die große Versammlung keinen Augenblick länger als nötig auf die Folter spannen. Es wäre nicht seine Sache, vorwegzunehmen, was Professor Summerlee, der Sprecher des Komitees, gleich zu sagen habe. Aber es sei bereits allgemein bekannt, daß die Expedition von außergewöhnlichem Erfolg gekrönt sei. Es folgte stürmischer Applaus. Das Zeitalter der Romantik sei anscheinend noch nicht vorbei, fuhr der Vorsitzende fort, und es gebe noch Gefilde, in denen die wildesten Phantasien des Dichters den tatsächlichen wissenschaftlichen Forschungen entsprechen würden. Ehe er sich setze, wolle er nur noch hinzufügen, daß er sich glücklich schätze, daß diese Herren gesund und munter von ihrem schweren und gefährlichen Auftrag zurückgekehrt seien. Es könne doch nicht bestritten werden, daß ein unglücklicher Ausgang dieser Expedition für die zoologische Wissenschaft einen nie wieder gutzumachenden Verlust bedeutet hätte. Es folgte allgemeiner Beifall, an dem Professor Challenger sich beteiligte.
Als Professor Summerlee sich anschließend erhob, brach ein neuer Begeisterungssturm los, der während seiner Rede immer wieder anschwoll. Sein Vortrag kann hier nicht in seinem ganzen Wortlaut wiedergegeben werden, denn ein ausführlicher Bericht aus der Feder unse-res Sonderberichterstatters über den Gesamtverlauf der Expedition befindet sich im Druck. Einige Andeutungen in groben Zügen mögen deshalb hier ausreichen.
Professor Summerlee erzählte zunächst dieVorgeschichte und zollte dabei seinem Freund, Professor Challenger, den schuldigen Tribut, verbunden mit einer Entschuldigung wegen der Ungläubigkeit, mit der er zunächst dessen jetzt voll gerechtfertigte Behauptungen aufgenommen habe. Dann beschrieb er den Verlauf der Reise, wobei er sorgfältig jegliche Information vermied, die der Öffentlichkeit hätte behilflich sein können, die geografische Lage dieses bemerkenswerten Plateaus festzulegen. Nach einem knappen Bericht über den Reiseweg vom Amazonas bis zum Fuß der Klippen schilderte er die Schwierigkeiten, denen sich die Expedition bei ihren wiederholten Versuchen, nach oben zu gelangen, gegenübersah. Der Erfolg mußte schließlich mit dem Leben ihrer beiden treuen halbblüti-gen Diener bezahlt werden.
Als er so seine Zuhörer im Geiste auf den Gipfel geführt und ihnen dort durch den Absturz der Brücke den Rückweg abgeschnitten hatte, ging der Professor dazu über, die Schrecken und die Vorzüge dieses bedeutungsvollen Landes aufzuzählen. Von persönlichen Erlebnissen sprach er nur wenig, legte aber um so größeres Gewicht auf die Erkenntnisse, die für die Wissenschaft mit der Erforschung des wunderbaren Tier-, Vogel-, Insekten-und Pflanzenlebens auf dem Plateau gewonnen werden konnten. Als besonders reichhaltig hätten sich die Coleoptera erwiesen, von denen sechsundvierzig, und die Lepidoptera, von denen vierundneunzig neue Arten innerhalb weniger Wochen gesichert werden konnten. Das Interesse des Publikums galt jedoch besonders den größeren Tieren, vor allem den Riesenungeheuern, die man bisher längst ausgestorben glaubte. Professor Summerlee zählte eine stattliche Anzahl dieser Tiere auf und betonte, die Liste sei noch lange nicht vollständig, was zweifellos eine nähere Erforschung des Plateaus zu einem späteren Zeitpunkt beweisen werde.
Er und seine Gefährten wären wenigstens einem Dutzend von Lebewesen begegnet, die zu keiner der Wissenschaft bekannten Art gehörten. Im Laufe der Zeit würden auch diese klassifiziert und näher untersucht werden. Er führte eine Schlange an, deren abgestreifte, purpurrote Haut einundfünfzig Fuß lang war, und erwähnte ein weißes Geschöpf, das in der Dunkelheit deutliche Phosphoreszenz erkennen ließ; ferner einen schwarzen Falter, dessen Biß bei den Indianern als äußerst giftig galt. Ungeachtet dieser völlig neuen Arten sei das Plateau überaus reich an bekannten urzeitlichen Lebensformen, die zum Teil bis in den frühen Jura zurückreichten. Unter anderem erwähnte Professor Summerlee den gigantischen und grotesken Stegosaurus, den Mr. Malone einmal am See beobachtet habe und der schon im Skizzenheft des amerikanischen Abenteurers Maple White abgebildet sei. Weiter beschrieb er das Iguanodon und den Pterodactylus.
Dann versetzte Professor Summerlee die Versammlung in atemlose Spannung, als er einen kurzen Bericht gab über die furchtbaren fleischfressenden Dinosaurier, die bei mehreren Gelegenheiten Mitglieder der Expedition verfolgt hatten. Anschließend kam er auf einen riesigen, bösartigen Vogel, den Phororachus, zu sprechen sowie auf einen großen Elch, der das Hochland durchstreift. Als Professor Summerlee die Geheimnisse des Gladys-Sees schilderte, erreichten Interesse und Begeisterung der Zuhörer den Höhepunkt. Man kniff sich unwillkürlich in den Arm, um sich zu vergewissern, daß man nicht träumte, während der nüchterne und sachliche Professor in kühlen, gemessenen Worten die ungeheuren Fischechsen und riesigen Seeschlangen beschrieb, die dieses geheimnisvolle Gewässer bevölkern. Als nächstes sprach er über die Indianer und die einmalige Kolonie menschenähnlicher Affen, die man als Weiterentwicklung des Pithecanthropus von Java betrachten könne und die mehr als irgendeine bisher bekannte Form jener hypothetischen Konstruktion, dem fehlenden Glied<, der Entwicklungsgeschichte des Menschen entsprächen. Anschließend erwähnte er unter allgemeiner Heiterkeit die geniale, aber recht gefährliche aeronautische Konstruktion von Professor Challenger und schloß seinen denkwürdigen Vortrag mit einem Bericht darüber, wie das Komitee endlich seinen Weg zurück in die Zivilisation fand.