»Zu welcher uns bekannten Kreatur gehört dieser Knochen?« fragte der Professor.
Ich drehte und wendete ihn und versuchte, mein verschüttetes Schulwissen an die Oberfläche meines Gedächtnisses zu befördern.
»Ist das vielleicht ein reichlich dickes Schlüsselbein?« frage ich. »Von einem Menschen?«
Professor Challenger sandte einen flehentlichen Blick zur Decke. »Das menschliche Schlüsselbein ist geschwungen«, erklärte er in schulmeisterlichem Ton. »Dieser Knochen ist gerade. Die Einkerbung an der Oberfläche beweist, daß hier eine Sehne entlanggelaufen ist. An einem Schlüsselbein laufen keine Sehnen entlang.«
»Dann weiß ich beim besten Willen nicht, was das für ein Knochen sein soll.«
»Sie brauchen sich wegen Ihrer Unwissenheit nicht zu schämen, Mr. Malone. Diesen Knochen identifiziert nicht einmal ein Fachmann auf Anhieb.« Er zog ein Pillendöschen aus der Tasche und nahm einen Knochen von der Form und Größe einer Kaffeebohne heraus. »Sehen Sie«, fuhr er fort, »dieses Knöchelchen, es stammt von einem menschlichen Skelett, entspricht anatomisch dem Knochen, den Sie in der Hand halten. Jetzt können Sie sich vielleicht vorstellen, wie groß die Kreatur ist, um die es geht. An der Knorpelmasse können Sie sehen, daß es sich nicht um ein fossiles, sondern um ein noch frisches Exemplar handelt. Und was sagen Sie jetzt?«
»Daß der Knochen vielleicht von einem Elefanten ...«
Der Professor schlug die Hände über dem Kopf zusammen.
»Ich flehe Sie an!« rief er. »In Südamerika gibt es doch keine Elefanten. Selbst bei unserem gegenwärtigen und höchst bedauerlichen Zustand des Schulwesens .«
»Dann eben irgendein großes Tier, das in Südamerika vorkommt«, fiel ich ihm ins Wort. »Ein Tapir, zum Beispiel.«
»Sie dürfen voraussetzen, junger Mann, daß ich in den Grundlagen meines Faches durchaus versiert bin. Dieser Knochen stammt weder vom Skelett eines Tapirs noch vom Skelett eines anderen uns bekannten Tieres. Er stammt vom Skelett einer sehr großen, sehr starken und höchstwahrscheinlich sehr bestialischen Kreatur, die auf der Erde lebt, der Wissenschaft aber bisher entgangen ist. Sind Sie immer noch nicht überzeugt?«
»Nein, aber ich finde die Sache hochinteressant.«
»Dann sind Sie wenigstens kein hoffnungsloser Fall. Tief in Ihrem Innern scheint sich ein Anflug von Vernunft zu verbergen, und wir wollen uns jetzt geduldig an ihn herantasten.
Vergessen wir vorerst einmal den toten Amerikaner, damit ich mit meinem Bericht weiterkomme. Sie können sich vorstellen, daß ich mich nicht auf die Heimreise machen konnte, ohne den Fall genauer untersucht zu haben. Bezüglich der Richtung, aus welcher der Fremde in das Dorf gekommen war, gab es gewisse Anhaltspunkte. Aber allein schon die Legenden der Indianer hätten genügt, mir den Weg zu weisen. Sie müssen nämlich wissen, daß im ganzen von mir bereisten Gebiet Gerüchte über ein unheimliches Land herumgingen. Curupuri ist Ihnen ein Begriff, oder?«
»Leider nicht.«
»Macht nichts. Also - Curupuri ist der Geist des Urwalds, ein grausames, böswilliges Wesen, dem man besser aus dem Weg geht. Niemand kann das Aussehen des Curupuri beschreiben, aber das Wort allein bedeutet Angst und Schrecken. Alle Stämme, denen ich begegnet bin, stimmen aber bezüglich der Richtung überein, in der das Wesen leben soll. Und genau aus dieser Richtung war der Fremde ins Dorf gekommen. Aus einer Richtung, die zu etwas Schrecklichem führte, und meine Aufgabe war es, es zu entlarven.«
»Und?« drängte ich, von plötzlicher Spannung ergriffen. »Was haben Sie unternommen?«
»Ich habe erst einmal die extreme Scheu der Eingeborenen gebrochen. Sie geht so weit, daß sie nicht einmal über das ffema sprechen wollen. Ich habe auf sie eingeredet, habe sie mit Geschenken bestochen und habe, das gebe ich offen und ehrlich zu, so lange irgendwelche wilden Drohungen von mir gegeben, bis ich zwei Männer so weit hatte, daß sie mich als Führer begleiteten. Nach vielen Abenteuern, die ich hier nicht beschreiben will, und nach einem Marsch, dessen Kilometerzahl ich nicht preisgebe, kamen wir schließlich in ein Gebiet, das geografisch noch nie erfaßt worden war. Außer mir und meinem unseligen Vorgänger hatte noch kein Mensch einen Fuß auf dieses Stückchen Land gesetzt. Hier - schauen Sie sich das an.«
Er gab mir eine Fotografie.
»Der bedauerliche Zustand der Aufnahme rührt daher«, fuhr er fort, »daß bei der Rückreise unser Boot kenterte und die Kiste mit den unentwickelten Filmen ins Wasser fiel. Fast meine ganzen Aufnahmen waren ruiniert. Diese hier ist eine der wenigen, die ich retten konnte. Man hat mir vorgeworfen, die Fotos gefälscht zu haben. Daß ich mich über diesen Punkt nicht weiter auslasse, werden Sie verstehen. Ich lehne es ab, auch nur ein Wort darüber zu Verlierer.«
Die Aufnahme war tatsächlich in einem miserablen Zustand. Eine verschwommene Landschaft, alles Grau in Grau. Nach einiger Konzentration gelang es mir jedoch, Einzelheiten zu erkennen. Im Vordergrund eine sanft ansteigende, von Bäumen bewachsene Ebene, im Hintergrund eine Klippenwand, die ich anfangs für einen Wasserfall gehalten hatte.
»Das sieht ähnlich aus wie die Landschaft in dem Zeichenheft«, sagte ich.
»Es ist dieselbe Landschaft«, sagte der Professor. »Ich habe sogar Spuren von Maple White gefunden. Und jetzt schauen Sie sich diese Aufnahme an.«
Sie war noch schlechter als die erste, trotzdem konnte ich darauf den pyramidenförmigen Felsen erkennen.
»Das scheint eindeutig zu sein«, sagte ich.
»Aha, wir machen Fortschritte«, sagte Professor Challenger zufrieden. »Jetzt betrachten Sie bitte die Spitze des Felsens. Was sehen Sie?«
»Einen riesigen Baum.«
»Und auf dem Baum?«
»Einen großen Vogel.«
Er gab mir eine Lupe.
»Ja«, sagte ich, während ich hindurchsah. »Auf dem Baum hockt ein großer Vogel. Dem Schnabel nach könnte es ein Pelikan sein.«
»Mit Ihrer Sehschärfe können Sie aber nicht viel Staat machen, mein Bester«, sagte der Professor. »Das ist kein Pelikan. Es ist überhaupt kein Vogel. Es dürfte Sie interessieren, daß es mir gelungen ist, das Tier abzuschießen, womit ich einen absolut stichhaltigen Beweis meines Unternehmens hatte.«
»Sie haben das Tier mit zurückgebracht?« fragte ich.
»Leider nein«, antwortete der Professor. »Das Prachtexemplar ging bei dem Bootsunfall mit über Bord. Ich griff danach, als es gerade von einem Strudel erfaßt wurde, und hatte einen Flügel in der Hand, weiter nichts. Der Rest wurde in die Tiefe gezogen. Den Flügel lege ich Ihnen jetzt vor.«
Er zog eine Schublade auf und brachte etwas zum Vorschein, was in meinen Augen wie der Teil eines Fledermausflügels aussah: ein gebogener Knochen von ungefähr sechzig Zentimetern Länge, an dem ein pergamentartiger Hautlappen hing.
»Eine Riesenfledermaus«, sagte ich.
»So ein Unsinn!« rief der Professor. »Wenn man wie ich in einer Welt der Wissenschaft lebt, möchte man es nicht für möglich halten, daß die einfachsten Grundbegriffe der Zoologie fehlen. Haben Sie denn keine Ahnung von vergleichender Anatomie, junger Mann? Sehen Sie, der Flügel eines Vogels entspricht einem Unterarm, während der Flügel einer Fledermaus aus drei verlängerten Fingern besteht, zwischen denen sich Häute spannen. In unserem Fall hier entspricht dieser Knochen ganz bestimmt keinem Unterarm, und Sie sehen ja selbst, daß hier ein einziger Hautlappen an einem einzigen Knochen hängt, also kann der Flügel nicht von einer Fledermaus stammen. Wenn weder Vogel noch Fledermaus - was dann, frage ich Sie?«
Ich war am Ende meiner spärlichen Biologiekenntnisse.
»Keine Ahnung«, sagte ich.
Professor Challenger griff wieder nach dem Buch seines Freundes Lankester und schlug es auf.
»Hier«, sagte er und deutete mit seinem dicken, behaarten Zeigefinger auf eine Illustration, die ein fliegendes Monster darstellte. »Eine fabelhafte Reproduktion des Dimorphodon oder auch Pterodactylus genannt. Es handelt sich dabei um ein fliegendes Reptil aus der Jurazeit. Auf der nächsten Seite sehen Sie eine grafische Darstellung. Sie erklärt den Mechanismus des Flügels. Und jetzt vergleichen Sie das einmal mit dem Fragment in Ihrer Hand.«