Orson Scott Card
Die verlorene Erde
Für einen guten Leser,
einen guten Freund und, was am wichtigsten ist,
für einen guten Menschen,
Jeff Alton
Anmerkungen über die Abstammung
Wegen der Ehegebräuche in der Stadt Basilika können die Familienverhältnisse mitunter etwas kompliziert sein. Vielleicht können diese Ahnentafeln die Dinge etwas verdeutlichen. Frauennamen sind kursiv gedruckt.
Rasas Nichten
Spitznamen
Bei den meisten Namen sind Abkürzungen und Kosenamen gebräuchlich. Zum Beispiel könnten Gaballufix’ nähere Verwandtschaft, seine engen Freunde, derzeitige Gattin und ehemalige Gattinnen ihn Gabja nennen. Weitere Spitznamen sind hier aufgeführt. (Da diese Namen so ungewohnt sind, werden weibliche Charaktere kursiv gesetzt.)
Dhelembuvex – Dhel
Obring – Brija
Dol – Dolja
Rasa – (keine Abkürzung)
Drotik – Dorja
Raschgallivak – Rasch
Eiadh – Edhja
Roptat – Rop
Elemak – Elja
Sevet – Sevja
Hosni – Hosja
Schedemei – Schedja
Huschidh – Schuja
Truzhnischa – Truzhja
Issib – Issja
Vas – Vasja
Kokor – Koja
Volemak – Volja
Luet – Lutja
Wetschik (keine Abkürzung; Volemaks Familientitel)
Mebbekew – Meb
Nafai – Njef
Zdorab – Zodja
Prolog
Der Hauptcomputer des Planeten Harmonie hatte Angst. Ein Mensch würde allerdings nichts davon merken – keine schweißnassen Handflächen, kein trockner Mund, kein schlechtes Gefühl in der Magengrube. Er war nur eine Maschine ohne bewegliche Teile, bekam seine Energie von der Sonne und seine Daten von Satelliten, seinem Speicher und einer halben Milliarde Menschen. Und doch konnte er eine Art Furcht spüren, das Gefühl haben, daß die Dinge seiner Kontrolle entglitten, daß er nicht mehr die Macht hatte, die Welt so zu beeinflussen wie zuvor.
Er verspürte, kurz gesagt, Todesangst. Er hatte nicht Angst vor dem Tod, denn der Hauptcomputer hatte kein Ego, und ihm war völlig gleichgültig, ob er weiterhin existierte oder nicht. Doch man hatte ihn vor Millionen von Jahren mit dem Auftrag programmiert, die Menschheit auf dieser Welt zu behüten. Wenn der Computer so schwach wurde, daß er seinen Auftrag nicht mehr erfüllen konnte, wußte er ohne Zweifel – jede Projektion, die zu erstellen er imstande war, bestätigte es –, daß innerhalb einiger weniger Jahrtausende die Menschheit erneut dem einzigen Feind gegenüberstehen würde, der sie vernichten konnte: der Menschheit selbst, hochgerüstet mit Waffen, die einen ganzen Planeten zerstören konnten.
Nun ist es an der Zeit, schloß der Hauptcomputer. Ich muß jetzt handeln, solange ich noch einen gewissen Einfluß auf diese Welt habe, oder erneut wird eine Welt sterben.
Und doch hatte der Hauptcomputer keine Ahnung, wie er vorgehen sollte. Eins der Symptome seines Niedergangs war eben jene Verwirrung, die ihn davon abhielt, eine Entscheidung zu treffen. Er konnte seinen eigenen Schlußfolgerungen nicht mehr vertrauen, falls er überhaupt imstande war, eine zu ziehen. Er brauchte Führung. Er mußte neu programmiert oder vielleicht sogar durch eine modernere Maschine ersetzt werden, die besser imstande war, sich mit den neuen Herausforderungen zu befassen, die sich innerhalb der menschlichen Rasse entwickelten.
Das Problem war jedoch, daß es nur eine einzige Quelle gab, von der er gültige Ratschläge erwarten konnte, und daß diese Quelle so weit entfernt war, daß sich die Überseele dorthin begeben und den Rat holen mußte. Früher einmal war die Überseele in der Lage gewesen, sich zu bewegen, doch das war vierzig Millionen Jahre her, und selbst innerhalb eines Stasisfelds hatte es Zerfall gegeben. Die Überseele konnte ihre Aufgabe nicht allein erfüllen. Sie brauchte menschliche Hilfe.
Zwei Wochen lang durchsuchte der Hauptcomputer seine gewaltigen Datenbanken und berechnete die potentielle Nützlichkeit eines jeden zur Zeit lebenden Menschen. Die meisten waren zu dumm oder unempfänglich; und von denen, die noch eine direkte Nachricht des Hauptcomputers empfangen konnten, befanden sich nur wenige in einer Position, in der sie die notwendigen Schritte einleiten konnten.
Daher richtete der Hauptcomputer seine Aufmerksamkeit auf eine Handvoll Menschen in der uralten Stadt Basilika. Als einer der zuverlässigsten Satelliten des Hauptcomputers im Schutz der Nacht über sie hinwegflog, begann er mit seiner Arbeit und schickte einen stetigen, gebündelten Strom an Informationen und Instruktionen an jene wenigen Menschen, die vielleicht etwas dazu beitragen konnten, eine Welt namens Harmonie zu retten.
1
Vaters Haus
Nafai erwachte im Morgengrauen auf seiner Matte in seines Vaters Haus. Da er vierzehn Jahre alt war, durfte er nicht mehr im Haus seiner Mutter schlafen. Keine anständige Frau auf Basilika würde ihre Tochter in Rasas Haushalt schicken, wenn dort ein vierzehnjähriger Junge wohnte – besonders, da Nafai mit zwölf Jahren noch einmal einen Wachstumsschub eingelegt hatte, der noch lange nicht aufzuhören schien, obwohl er schon fast zwei Meter groß war.
Erst gestern hatte er zufällig mitbekommen, wie seine Mutter mit ihrer Freundin Dhelembuvex gesprochen hatte. »Die Leute überlegen schon, wann du ein Tantchen für ihn finden wirst«, hatte Dhel gesagt.
»Er ist doch noch ein Junge«, erwiderte seine Mutter.
Dhel johlte vor Gelächter. »Rasa, meine Liebe, hast du solche Angst davor, alt zu werden, daß du dir nicht eingestehen kannst, daß dein kleines Baby ein Mann ist?«
»Es ist nicht die Furcht vor dem Alter«, sagte Mutter. »Wir können mit Tantchen und Gefährtinnen und dem ganzen Zeug anfangen, wenn er selbst daran denkt.«
»Oh, er denkt schon daran«, sagte Dhel. »Er spricht nur nicht mit dir darüber.«
Dies entsprach allerdings den Tatsachen; Nafai war errötet, als er gehört hatte, wie sie es sagte, und lief nun, als er sich daran erinnerte, erneut rot an. Woher konnte Dhel wissen, obwohl sie ihn an jenem Tag nur einen Augenblick lang gesehen hatte, daß seine Gedanken so oft ›diesem ganzen Zeug‹ galten? Aber nein, Dhel wußte es nicht, weil sie es Nafai angesehen hatte. Sie wußte es, weil sie die Männer kannte. Ich durchlaufe gerade ein gewisses Alter, dachte Nafai. Alle Jungs in diesem Alter denken daran. Jeder kann auf einen Jungen zeigen, der fast zwei Meter groß, aber noch bartlos ist, und sagen: »Dieser Junge denkt gerade an Sex!«, und wird dabei meistens recht behalten.
Aber ich bin nicht wie all die anderen, dachte Nafai. Wenn ich höre, wie Mebbekew und seine Freunde darüber sprechen, wird mir übel. Ich mag nicht so grobschlächtig von Frauen denken, sie abschätzen wie Stuten, um festzustellen, wozu sie wohl zu gebrauchen sind. Ein Pack- oder ein Reittier? Geht sie im Schritt, oder können wir galoppieren? Halte ich sie im Stall, oder kann ich sie meinen Freunden zeigen?