Was hatte Luet und Huschidh bei einem Gespräch über Familienangelegenheiten zu suchen?
»Mein lieber Gefährte Wetschik hat uns etwas zu sagen. Wir hoffen, daß ihr … nun ja, zumindest, daß Luet oder Huschidh vielleicht …«
»Warum fange ich nicht einfach an?« sagte Vater.
Mutter lächelte und hob mit einem grazilen, eleganten Achselzucken die Hände.
»Ich habe heute morgen etwas Beunruhigendes gesehen«, begann Vater. »Eigentlich noch vor dem Morgen. Ich war auf der Wüstenstraße unterwegs nach Hause – ich war gestern in der Wüste, um nachzudenken und mit mir und der Überseele ins reine zu kommen –, als mich plötzlich ein starker Drang überkam, den Weg zu verlassen, obwohl dies in der Dunkelheit zwischen Monduntergang und Sonnenaufgang eigentlich sehr töricht ist. Ich mußte nicht weit gehen. Ich trat lediglich um einen großen Felsen, und mir wurde ziemlich klar, wieso ich zu dieser Stelle geführt worden war. Denn vor mir sah ich Basilika. Aber nicht das Basilika, das ich erwartet hatte, gesprenkelt mit den Lichtern der Feier in der Puppenstadt oder auf dem Inneren Markt. Ich sah ein Basilika in Flammen.«
»Es brannte?« fragte Issib.
»Es war natürlich nur eine Vision. Bedenkt, dies wußte ich zuerst nicht – ich sprang vor, ich wollte zur Stadt laufen, hierher stürmen und mich überzeugen, daß dir nichts passiert ist, meine Liebe …«
»Wie ich es auch von dir erwartet hätte«, sagte Mutter.
»Dann verschwand die Stadt so plötzlich, wie sie aufgetaucht war. Nur das Feuer blieb und bildete auf dem Felsen vor mir eine Säule. Sie schien ewig dort zu stehen, eine Flammensäule. Und sie war heiß – so heiß, als wäre sie wirklich vorhanden gewesen. Ich spürte, wie sie mich versengte, doch auf meiner Kleidung ist natürlich kein einziger Fleck. Und dann erhob sich die Flammensäule in den Himmel, zuerst ganz langsam, dann immer schneller, bis sie zu einem Stern wurde, der über den Himmel zog und dann völlig verschwand.«
»Du warst müde, Vater«, sagte Issib.
»Ich bin schon oft müde gewesen«, sagte Vater, »doch ich habe nie zuvor Flammensäulen gesehen. Oder brennende Städte.«
Mutter ergriff wieder das Wort. »Dein Vater ist in der Hoffnung zu mir gekommen, Issja, ich könne ihm helfen, die Bedeutung dieses Vorfalls zu verstehen. Ob er ein Zeichen der Überseele war oder nur ein verrückter Wachtraum.«
»Ich plädiere für den Traum«, sagte Issib.
»Selbst Wahnsinn kann von der Überseele kommen«, sagte Huschidh.
Alle sahen sie an. Sie war ein ziemlich unscheinbares Mädchen, das sich im Unterricht immer still verhielt. Nun, da Nafai sie und Luet nebeneinander sah, fiel ihm auf, daß die beiden sich stark ähnelten. Waren sie Schwestern? Aber viel mehr interessierte ihn, was Huschidh hier zu suchen hatte und mit welchem Recht sie über Familienangelegenheiten sprach.
»Es kann von der Überseele gekommen sein«, sagte Vater. »Aber ist es das auch? Und falls ja, was hat es zu bedeuten?«
Nafai begriff, daß Vater diese Fragen nicht an Rasa, nicht einmal an Huschidh, sondern an Luet richtete! Er konnte doch nicht glauben, was die Frauen über sie sagten, oder? Hatte eine einzige Vision einen vernünftig denkenden Geschäftsmann in einen abergläubischen Jünger verwandelt, der versuchte, in allem, was er sah, eine Bedeutung zu finden?
»Ich kann dir sagen, was dein Traum bedeutet«, sagte Luet.
»Oh«, sagte Vater. »Eigentlich habe ich gar nicht angenommen, daß …«
»Falls die Überseele den Traum geschickt hat und falls sie wollte, daß du ihn verstehst, hat sie auch die Deutung geschickt.«
»Da war keine Deutung.«
»Ach nein?« fragte Luet. »Das war das erste Mal, daß du solch einen Traum gehabt hast, nicht wahr?«
»Ganz bestimmt. Wenn ich des Nachts reise, habe ich für gewöhnlich keine Visionen.«
»Also bist du es nicht gewöhnt, die Bedeutung zu erkennen, die solche Visionen haben.«
»Wahrscheinlich nicht.«
»Und doch hast du eine Botschaft erhalten.«
»Wirklich?«
»Du hast gewußt, daß du die Straße verlassen mußtest, bevor du die Flamme gesehen hast.«
»Na ja, das.«
»Was glaubst du denn, wie die Stimme der Überseele klingt? Glaubst du etwa, sie spricht Basjat oder stellt Schilder auf?«
Luet klang verächtlich. Es war einfach unerhört, in einem solchen Ton mit einem Mann von Wetschiks Rang zu sprechen. Und doch schien er nicht beleidigt zu sein und nahm ihren Tadel hin, als habe sie das Recht, ihn zu züchtigen.
»Die Überseele bringt das Wissen in unseren Verstand, bevor es sich mit irgendeiner menschlichen Sprache verbindet«, sagte sie. »Wir bekommen immer mehr davon, als wir je verstehen können, und wir können viel mehr verstehen, als wir in Worte kleiden können.«
Luets Stimme zeugte von einer ganz einfachen Kraft. Sie intonierte nicht übertrieben, wie die Hexen und Propheten auf dem inneren Markt es taten, wenn sie Kunden anlocken wollten. Sie sprach, als wisse sie genau, was sie sagte, als gäbe es daran nicht den geringsten Zweifel.
»Ich möchte dich etwas fragen, Herr. Wieso hast du gewußt, daß es Basilika war, als du die Stadt in Flammen gesehen hast?«
»Ich habe sie tausendmal gesehen, genau aus diesem Blickwinkel, als ich aus der Wüste kam.«
»Aber hast du die Kontur der Stadt gesehen und sie deshalb erkannt, oder hast du zuerst gewußt, daß es sich um das brennende Basilika handelte, und dann in deinem Geist das Bild der Stadt hervorgerufen, wie es sich in deinem Gedächtnis eingeprägt hat?«
»Ich weiß nicht … woher soll ich das wissen?«
»Denke zurück. War das Wissen vor der Vision da, oder kam die Vision zuerst?«
Anstatt dem Mädchen zu sagen, es solle verschwinden, schloß Vater die Augen und versuchte, sich zu erinnern.
»Wenn du es so ausdrückst, glaube ich … daß ich es gewußt habe, bevor ich in diese Richtung sah. Ich glaube, ich habe die Stadt eigentlich erst gesehen, als ich auf sie zulief. Ich sah die Flamme, aber nicht die brennende Stadt darin. Und nun, da du fragst, fällt mir auch ein, daß ich genau wußte, daß Rasa und meine Kinder in schrecklicher Gefahr waren. Das alles wußte ich zuerst, als ich den Felsen umrundete – es gehörte zu diesem dringlichen Gefühl. Ich wußte, wenn ich den Weg verließ und zu genau dieser Stelle lief, würde ich sie vor der Gefahr retten können. Erst dann kam mir in den Sinn, woraus diese Gefahr bestand, und ganz zum Schluß sah ich die Flamme und die Stadt darin.«
»Das ist eine wahre Vision«, sagte Luet.
Nur deshalb? Sie wußte es wegen der Reihenfolge, in der sich die Dinge ereignet hatten? Wahrscheinlich hätte sie das auf jeden Fall gesagt, ganz gleich, woran Vater sich erinnerte. Und vielleicht erinnerte sich Vater nur auf diese Weise daran, weil Luet es so angedeutet hatte. Es machte Nafai wütend, daß Vater einsichtsvoll nickte, während dieses zwölfjährige Mädchen ihn herablassend behandelte wie einen Lehrling in einem Beruf, in dem sie eine respektierte Meisterin war.
»Aber es war doch gar nicht wahr«, sagte Vater. »Als ich hier ankam, bestand gar keine Gefahr.«
»Nein, das glaube ich nicht«, sagte Luet. »Was wolltest du tun, als du gespürt hast, daß deine Gefährtin und Kinder in Gefahr sind?«
»Ich wollte sie natürlich retten.«
»Aber wie?«
Erneut schloß er die Augen. »Nein, aus dem brennenden Gebäude wollte ich sie nicht holen. Das kam mir erst später in den Sinn, als ich den Rest des Weges in die Stadt zurücklegte. In diesem Augenblick wollte ich rufen, daß die Stadt brennt, daß wir …«