»Was?«
»Daß wir die Stadt verlassen müssen, wollte ich sagen. Aber das hatte ich eigentlich zuerst nicht sagen wollen. Als es anfing, hatte ich das Gefühl, zur Stadt laufen und allen sagen zu müssen, daß ein Feuer kommen wird.«
»Und daß sie die Stadt verlassen müssen?«
»Ich glaube schon«, sagte Vater. »Natürlich, was sonst?«
Luet sagte nichts, doch ihr Blick wich keinen Augenblick lang von seinem Gesicht.
»Nein«, sagte Vater. »Nein, das war es nicht.« Vater klang überrascht. »Ich wollte sie nicht auffordern, die Stadt zu verlassen.«
Luet beugte sich vor, betrachtete ihn irgendwie noch eindringlicher, nicht mehr so … analytisch. »Herr, gerade noch hast du gesagt, du hättest sie auffordern wollen, die Stadt zu verlassen …«
»Aber da$ wollte ich ja gar nicht.«
»Aber als du einen Moment lang dachtest … als du angenommen hast, du wolltest sie auffordern, die Stadt zu verlassen … was für ein Gefühl hattest du da? Warum hast du gewußt, daß es falsch war, als du es uns erzählt hast?«
»Keine Ahnung. Es kam mir einfach … falsch vor.«
»Das ist sehr wichtig«, sagte Luet. »Wie fühlt es sich an, wenn einem etwas falsch vorkommt?«
Erneut schloß er die Augen. »Ich denke normalerweise nicht darüber nach, wie ich denke. Und nun versuche ich mich daran zu erinnern, wie es sich anfühlte, als ich glaubte, mich an etwas zu erinnern, woran ich mich gar nicht erinnert habe …«
»Sprich nicht«, sagte Luet.
Er verstummte.
Nafai wollte irgend jemanden anschreien. Was sollte das, auf dieses häßliche, dumme, kleine Mädchen zu hören und zuzulassen, daß sie Vater sagte, er solle den Mund halten?
Doch alle anderen lauschten so gespannt, daß Nafai selbst den Mund hielt. Issib würde stolz auf ihn sein, daß er einmal etwas nicht gesagt hatte, was ihm in den Sinn gekommen war.
»Ich habe«, sagte Vater, »gar nichts gefühlt.« Er nickte langsam. »Als du mir die Frage gestellt hast und ich sie beantwortet habe … Natürlich, was sonst … da hast du mich angesehen, und ich hatte gar nichts im Kopf.«
»Dumm«, sagte sie.
Er runzelte die Stirn. Zu Nafais Erleichterung fiel ihm endlich auf, wie respektlos Luet mit ihm sprach.
»Du bist dir dumm vorgekommen«, sagte sie. »Und daher hast du gewußt, daß das, was du gerade gesagt hast, falsch war.«
Er nickte. »Ja, so war es wohl.«
»Was hat das alles zu bedeuten?« fragte Issib. »Analysiert ihr eure Analyse der Analysen einer völlig subjektiven Halluzination?«
Gut gemacht, Issja, dachte Nafai bei sich. Du hast mir die Worte aus dem Mund genommen.
»Ich meine, ihr könnt diese Spielchen den ganzen Morgen über treiben, aber ihr legt dabei nur Bedeutungen über ein bedeutungsloses Erlebnis. Träume sind lediglich zufällige Freisetzungen von Erinnerungen, die das Gehirn dann interpretiert, indem es zufällige Verbindungen zieht, womit man aus nichts eine Geschichte fabriziert.«
Vater sah Issib lange an und schüttelte dann den Kopf. »Du hast natürlich recht«, sagte er. »Obwohl ich hellwach war und nie zuvor eine Halluzination gehabt habe, handelte es sich lediglich um eine zufällige Zündung von Synapsen in meinem Gehirn.«
Nafai wußte genau wie Issib und Mutter, daß Vater es ironisch meinte und Issib damit sagte, daß es sich bei seiner Vision von dem Feuer auf dem Felsen um mehr als nur einen bedeutungslosen Nachttraum gehandelt hatte. Doch Luet kannte Vater nicht, und daher glaubte sie, er würde sich vom Mystizismus abwenden und in die Wirklichkeit zurückkehren.
»Du irrst dich«, sagte sie. »Es war eine echte Vision, denn sie kam auf dem richtigen Weg zu dir. Das Verständnis kam vor der Vision – deshalb habe ich diese Fragen gestellt. Die Bedeutung ist vorhanden, und dann liefert dein Gehirn das Bild, das dich sie verstehen läßt. So spricht die Überseele zu uns.«
»Zu Verrückten, meinst du«, sagte Nafai.
Er bedauerte es augenblicklich, doch es war schon zu spät.
»Verrückte, wie ich einer bin?« fragte Vater.
»Und ich versichere dir, daß Luet mindestens so normal ist wie du«, fügte Mutter hinzu.
Issib konnte die Gelegenheit nicht auslassen, eine Spitzfindigkeit hinzuzufügen. »So normal wie Njef? Dann steckt sie wirklich in Schwierigkeiten.«
Vater unterbrach Issibs Stichelei augenblicklich. »Gerade hast du dasselbe über mich gesagt.«
»Ich habe niemanden verrückt genannt«, entgegnete Issib.
»Nein, dir mangelt es an Nafais – wie sollen wir es nennen? – scharfer Beredsamkeit.«
Nafai wußte, daß er sich nun retten konnte, indem er die Klappe hielt und Issib die Suppe auslöffeln ließ. Doch er hatte sich dem Skeptizismus verschrieben, und Selbstbeherrschung war nicht gerade seine Stärke. »Dieses Mädchen«, sagte Nafai. »Siehst du nicht, daß sie dir die Worte in den Mund legt, Vater? Sie stellt dir eine Frage, aber sie sagt dir nicht im voraus, was die Antwort bedeuten wird. Ganz gleich, was du antwortest, sie kann immer sagen, ja, das ist eine wahre Vision, da hat eindeutig die Überseele gesprochen.«
Vater antwortete nicht sofort darauf. Nafai warf Luet einen triumphierenden Blick zu; er wollte sehen, wie sie sich wand. Doch sie wand sich nicht. Sie betrachtete ihn ganz ruhig. Die Eindringlichkeit war aus ihrem Blick gewichen, und nun war sie einfach – ruhig. Die Stetigkeit ihres Blicks störte ihn. »Wen starrst du an?« fragte er.
»Einen Narren«, erwiderte sie.
Nafai sprang auf. »Ich muß mir nicht bieten lassen, daß du mich einen …«
»Setz dich!« brüllte Vater.
Nafai setzte sich, vor Zorn kochend.
»Du hast sie gerade eine Schwindlerin genannt«, sagte Vater. »Ich weiß zu schätzen, daß meine beiden Söhne hier genau das tun, weshalb ich sie hinzugezogen habe – sie sollen meiner Geschichte mit der gebührenden Skepsis begegnen. Ihr habt das Geschehen sehr klug analysiert, und nun erklärt eure Version der Dinge alles genauso lückenlos, wie es bei Luets Version der Fall ist.«
Nafai wollte ihm helfen, den richtigen Schluß zu ziehen. »Dann verlangt die Regel, immer auf die einfachste Erklärung zurückzugreifen, daß du …«
»Die Regel, deinem Vater zu gehorchen, verlangt vor dir, deine Zunge im Zaum zu halten, Nafai. Ihr beide vergeßt, daß es einen fundamentalen Unterschied zwischen mir und euch gibt.«
Vater beugte sich zu Nafai vor.
»Ich habe das Feuer gesehen.«
Er lehnte sich wieder zurück.
»Luet hat mir nicht gesagt, was ich damals denken oder fühlen sollte. Und ihre Fragen halfen mir, mich daran zu erinnern, was wirklich geschehen ist. Ich habe das Erlebnis bereits verändert, um es meiner vorgefaßten Meinung anzupassen. Sie hat gewußt, daß es seltsam sein würde – genau auf die Art und Weise, in der es auch seltsam war. Euch kann ich natürlich nicht überzeugen.«
»Nein«, sagte Nafai, »du kannst nur dich überzeugen.«
»Zum Schluß, Nafai, ist man selbst die einzige Person, die irgend jemand überzeugen kann.«
Wenn Vater schon auf Aphorismen zurückgriff, war die Schlacht verloren. Nafai setzte sich zurück und wartete ab, wie es enden würde. Er tröstete sich mit der Tatsache, daß alles schließlich nur ein Traum gewesen war. Es bestand ja keine Gefahr, daß sich sein Leben oder sonst etwas verändern würde.
Vater war noch nicht fertig. »Weißt du, was ich in Wirklichkeit tun wollte, als ich diesen Drang verspürte, zur Stadt zu kommen? Ich wollte die Menschen warnen – daß sie die alten Gebräuche befolgen, zu den Gesetzen der Überseele zurückkehren müssen, oder dieser Ort wird brennen.«