Выбрать главу

Frauen gehen ins Wasser hinab und haben dort Visionen? Es war das erste Mal, daß Nafai je gehört hatte, daß eine Frau irgendeine Äußerung über die religiösen Bräuche am See fallen ließ. Er hatte immer angenommen, daß die Frauen einen ähnlichen Kult betrieben wie die Männer – körperliche Betätigung, Askese, Schmerz, eine leidenschaftslose Möglichkeit, sich von Gefühlen zu befreien. Statt dessen waren sie Mystikerinnen. Was Männer für Legenden oder Wahnsinn hielten, war für die Frauen der Mittelpunkt des Lebens. Nafai kam sich vor, als habe er gerade entdeckt, daß Frauen doch eine ganz andere Spezies waren. Die Frage lautete nur, wer von ihnen, Männer oder Frauen, waren die Menschen? Die rationalen, aber brutalen Männer? Oder die irrationalen, aber sanften Frauen?

»Nur eins ist seltener als ein Mädchen wie Luet«,sagte Mutter, »und zwar ein Mann, der die Stimme der Überseele hört. Wir wissen nun, daß euer Vater sie wirklich hört – Luet hat es mir bestätigt. Ich weiß nicht, was die Überseele will, oder warum sie zu euerm Vater gesprochen hat, doch ich bin klug genug, um zu wissen, daß es wichtig ist.«

Als sie an Nafai vorbeiging, nahm sie sein Ohr fest, aber nicht schmerzhaft, zwischen ihre Finger. »Und was die mythische Verbrennung der Erde betrifft, mein lieber Junge, so habe ich sie selbst gesehen. Sie ist wirklich geschehen. Ich kann nur raten, wie lange es her ist – wir schätzen, daß es mindestens dreißig Millionen Jahre menschlicher Geschichte auf dieser Welt gibt, die wir Harmonie nennen. Aber ich sah die Raketen fliegen, die Bomben explodieren und die Welt in Flammen aufgehen. Der Rauch erfüllte den Himmel und verdeckte die Sonne, und unter diesem Tuch aus Dunkelheit gefroren die Ozeane, und die Welt wurde von Eis überzogen, und nur wenige Menschen überlebten, um sich aus der Schwärze zu erheben, als die Welt starb, und ihre Hoffnungen und ihr Bedauern und ihre Gene zu anderen Planeten zu tragen, und die Hoffnung auf einen neuen Anfang. Sie haben es geschafft. Wir sind hier. Und nun hat die Überseele deinen Vater gewarnt, daß unser neuer Anfang zu demselben Ende wie zuvor führen kann.«

Nafai hatte Mutters öffentliches Gesicht gesehen, verspielt, brillant, analytisch, gnädig, und er hatte ihr Familiengesicht gesehen – frei heraus, doch immer freundlich, schnell erzürnt, doch genauso schnell verzeihend. Stets hatte er angenommen, daß sich in der Familie ihr wahres Ich zeigte, daß sie dort nichts verbarg. Doch hinter den Gesichtern, die er zu kennen glaubte, hatte sie die ganze Zeit über dieses Geheimnis verborgen, ihre bittere Version vom Ende der Erde. »Du hast uns nie etwas davon gesagt«, flüsterte Nafai.

»Ich habe euch ganz bestimmt davon erzählt«, sagte Rasa. »Es ist nicht meine Schuld, daß ihr geglaubt habt, ich hätte euch einen Mythos erzählt.« Sie ließ sein Ohr los und kehrte ins Haus zurück.

Issib trieb an ihm vorbei, etwas davon murmelnd, eines Morgens aufzuwachen und festzustellen, daß man sein ganzes Leben in einem Irrenhaus verbracht hatte. Huschidh ging auch an ihm vorbei, begegnete seinem Blick aber nicht; er konnte sich vorstellen, worüber sie den Rest des Tages über in seiner Klasse tuscheln würde.

Nafai war allein mit Luet.

»Ich hätte vorher nicht mit dir sprechen sollen«, sagte sie.

»Und du solltest auch nie wieder mit mir sprechen«, schlug Nafai vor.

»Einige Menschen hören eine Lüge, wenn man ihnen die Wahrheit sagt. Du bist so stolz auf deinen Rang als Sohn Rasas und Wetschiks, doch offensichtlich hast du von deinen Eltern die falschen Gene bekommen.«

»Während du bestimmt die besten bekommen hast, die deine Eltern dir mit auf den Weg geben konnten.«

Sie sah ihn mit offensichtlicher Verachtung an, und dann war sie fort.

»Was für ein wunderschöner Tag wird das«, sagte er laut vor sich hin. »Meine ganze Familie haßt mich.« Er dachte einen Augenblick lang nach. »Ich bin nicht mal sicher, daß ich möchte, daß sie mich mag.«

Einen gefährlichen Augenblick lang spielte er, als er nun allein auf dem Säulengang stand, mit dem Gedanken, an den Wandschirmen vorbeizuschlüpfen, zum Geländer zu gehen und trotz aller Verbote das Tal der Heiligen Frauen zu betrachten, das in der Umgangssprache als Das Spaltental bezeichnet wurde und abfälliger als die Schlucht der alten Weiber. Ich werde es sehen, und ich wette, ich verliere nicht einmal mein Augenlicht.

Doch er tat es nicht, obwohl er lange dort stand und darüber nachdachte. Jedesmal, wenn er einen Schritt zum Geländer tun wollte, schienen seine Gedanken plötzlich abzuschweifen, und er zögerte und vergaß einen Augenblick lang, was er vorhatte. Schließlich verlor er das Interesse und kehrte ins Haus zurück.

Er hätte in den Klassenraum gehen sollen. Doch er brachte es nicht über sich. Statt dessen wanderte er zur Eingangstür und auf den Hof hinaus, auf die Straßen Basilikas. Mutter würde wahrscheinlich wütend auf ihn sein, doch daran ließ sich auch nichts ändern.

Er mußte gesehen haben, wohin er ging, da er mit nichts und niemandem zusammenstieß, doch er konnte sich nicht daran erinnern, was er gesehen hatte oder wo er gewesen war. Schließlich fand er sich im Brunnenviertel wieder, nicht weit entfernt von Rasas Haus; und in seinem Kopf waren immer und immer wieder dieselben Gedanken gekreist.

Eins wußte er: Er konnte das alles nicht als Wahnsinn abtun. Vater war nicht verrückt, wie seltsam er auch erscheinen mochte; und was Mutter betraf, so mußte sie schon vor seiner Geburt wahnsinnig gewesen sein, falls ihre Vision der brennenden Erde Wahnsinn war. Also gab es wirklich etwas, das Ideen und Begehren und Visionen in die Köpfe seiner Eltern eingab – und auch in Luets Kopf, sie durfte er nicht vergessen. Die Menschen nannten dieses Etwas die Überseele, doch das war nur ein Name, eine Bezeichnung. Was war es? Was wollte es? Was konnte es tatsächlich bewirken? Warum sprach sie nicht zu allen Menschen, wenn es ihr doch möglich war, zu einigen zu sprechen?

Nafai blieb vor einer ziemlich breiten Straße vor dem vielleicht größten Haus in Basilika stehen. Er kannte es ziemlich gut, da der Kopf des Klans Palwaschantu Gefährte der Frau war, die dort wohnte. An ihren Namen konnte Nafai sich nicht erinnern: Sie war ein Niemand, alle wußten, daß sie dieses uralte Haus mit dem Geld ihres Gefährten gekauft hatte, und würde sie den Vertrag nicht erneuern, wäre sie selbst mit dem Haus noch immer ein Niemand – doch er war Gaballufix. Es bestand eine Familien Verbindung – seine Mutter war Hosni, die später Wetschiks Tantchen und Elemaks Mutter geworden war. Aufgrund dieser Blutsverbindung und der Tatsache, daß Vater vielleicht der zweitberühmteste Klansmann der Palwaschantu in Basilika war, hatten sie dieses Haus mindestens einmal, normalerweise aber zwei- oder dreimal pro Jahr besucht, solange Nafai zurückdenken konnte.

Als er dort stand und die Fassade dieses Wahrzeichens der Stadt betrachtete, wurde er plötzlich wach, weil er, ohne es zu wollen, jemanden auf der Straße erkannt hatte. Elemak hätte zu Hause eigentlich schlafen müssen – er war doch stets nachts gereist, oder? Und doch war er am hellichten Nachmittag hier. Einen Augenblick lang geriet Nafai in Panik und fragte sich, ob Elja vielleicht ihn suchte – war es möglich, daß Mutter sein Verschwinden aufgefallen war und sie sich Sorgen gemacht hatte und nun die ganze Familie die Stadt nach ihm durchkämmte?