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Aber nein. Elemak suchte niemanden. Er bewegte sich zu beiläufig, zu gelassen. Sah sich überhaupt nicht um.

Und dann war er verschwunden.

Nein, er war in die Lücke zwischen Gaballufix’ Haus und dem benachbarten Gebäude gebogen. Also hatte er ein Ziel.

Nafai mußte wissen, was Elemak vorhatte. Er trottete die Straße entlang, bis er die schmale Gasse ungehindert einsehen konnte. Rechtzeitig bekam er mit, wie Elemak durch einen schmalen Seiteneingang Gaballufix’ Haus betrat.

Nafai konnte sich nicht vorstellen, was Elja mit Gaballufix zu schaffen hatte – und erst recht kamen ihm keine so dringenden Geschäfte in den Sinn, daß Elemak das Haus ausgerechnet an dem Tag, an dem er von einer langen Reise zurückgekehrt war, aufsuchen mußte. Sicher, rein formal war Gaballufix Eljas Halbbruder, doch sie waren sechzehn Jahre auseinander, und Gaballufix hatte Elja niemals öffentlich als seinen Bruder anerkannt. Das bedeutete jedoch nicht, daß sie sich nicht allmählich wie enge Verwandte benehmen konnten. Dennoch störte es, daß Elemak nie etwas davon erwähnt hatte und es offenbar geheimhalten wollte.

Ob ihn die Frage nun störte oder nicht, Nafai wußte, daß es eine sehr schlechte Idee war, Elemak direkt danach zu fragen. Wenn Elja wollte, daß sie wußten, was er mit Gaballufix zu schaffen hatte, würde er es ihnen sagen. Bis dahin würde er das Geheimnis bewahren.

Ein Geheimnis bewahren.

Luet hatte gewußt, daß Nafai in Eiadh verliebt war. Na ja, so geheim war es nun auch wieder nicht – Luet hatte es vielleicht aufgrund der Blicke bemerkt, die er ihr zuwarf. Doch auf dem Hof vor Mutters Haus hatte Luet gesagt: »Du bist der Bastard«, als habe sie sich revanchieren wollen, weil er sie Bastard genannt hatte. Doch er hatte gar nichts gesagt. Er hatte nur gedacht, daß sie ein Bastard war. Dieser Meinung hatte er nie zuvor Ausdruck verliehen. Er hatte es nur in diesem Augenblick gedacht, weil er sich über Luet geärgert hatte. Und doch hatte sie es gewußt.

War das auch die Überseele gewesen? Sie setzte den Leuten nicht nur Ideen in den Kopf, sondern nahm sie auch wieder heraus und verriet sie anderen Personen? Die Überseele lieferte nicht nur seltsame Träume – sie war auch ein Spitzel.

Nafai machte der Gedanke Angst, daß es die Überseele nicht nur tatsächlich gab, sondern daß sie auch die Macht hatte, seine geheimsten, flüchtigsten Gedanken zu lesen und sie einem anderen Menschen zu verraten. Und ausgerechnet so einer widerwärtigen Person wie diesem kleinen Bastard von Hexenmädchen.

Seine Angst war nicht geringer als damals, als er das erstemal allein ins Meer hinausgegangen war. Vater war mit ihnen in den Ferien an den Strand gefahren. Am ersten Nachmittag dort waren sie alle gemeinsam ins Wasser gegangen, und umgeben von seinem Vater und seinen Brüdern – außer Issib natürlich, der sie aus seinem Stuhl auf dem Strand beobachtet hatte – hatte er gespürt, wie die See mit ihm spielte, die Wellen ihn zum Ufer schoben und dann wieder hinauszuziehen versuchten. Es machte Spaß und war aufregend. Er wagte es sogar, so weit hinauszuschwimmen, daß seine Füße den Boden nicht mehr berührten, und dort mit Meb und Elja und Vater zu spielen. Ein guter Tag, ein schöner Tag, als seine älteren Brüder ihn noch mochten. Doch am nächsten Morgen stand er früh auf, verließ das Zelt und ging allein zum Wasser. Er konnte schwimmen wie ein Fisch; er war nicht in Gefahr. Und dennoch verspürte er ein unerklärliches Unbehagen, als als er ins Wasser hinausging. Das Wasser zerrte und zog an ihm; er war nur ein paar Meter vom Ufer entfernt, und doch war niemand sonst im Wasser, er war ganz allein, er kam sich vor, als gehörte er nicht hierher, als wäre er schon ins Meer hinausgespült worden, als befände er sich im Griff eines so riesigen Wesens, daß es ihn jederzeit verschlingen konnte. Er geriet in Panik. Er lief zum Ufer, kämpfte gegen das Wasser an, überzeugt, daß es ihn niemals loslassen würde, daß es an ihm zerrte, ihn nach unten zog. Und dann war er auf dem Sand, auf dem trockenen Sand oberhalb der Gezeitenlinie, und er fiel auf die Knie und weinte, weil er in Sicherheit war.

Doch in diesen wenigen Augenblicken im Wasser hatte er den Schrecken des Wissens gespürt, wie klein und hilflos er war, welche großen Mächte es auf der Welt gab und wie leicht sie mit ihm machen konnten, was sie wollten.

Das war die Furcht, die er nun verspürte. Nicht so stark, nicht so bestimmt wie an jenem Tag am Strand – aber andererseits war er auch keine fünf Jahre mehr alt, und er konnte besser mit der Furcht umgehen. Die Überseele war keine alte Legende, sie lebte, und sie konnte Visionen in die Köpfe seiner eigenen Eltern zwingen und Geheimnisse in Nafais Kopf finden und sie anderen Menschen verraten, Menschen, die Nafai nicht mochten und die er nicht mochte.

Das Schlimmste daran war die Erkenntnis, daß Luet ihn wahrscheinlich nicht mochte, weil die Überseele ihr seine Gedanken verraten hatte. Seine geheimsten Gedanken wurden diesem unsympathischen kleinen Ungeheuer bloßgelegt. Womit mußte er noch rechnen? Würde sich Vaters nächste Vision um Nafais Phantasien über Eiadh drehen? Oder noch schlimmer, würde Mutter sie sehen?

Am Strand hatte er zum Ufer laufen können. Wohin sollte er vor der Überseele fliehen?

Man konnte nicht vor ihr fliehen. Man konnte sich auch nicht verstecken – wie konnte man seine eigenen Gedanken so verkleiden, daß man nicht einmal selbst wußte, was man dachte?

Ihm blieb nur eine Möglichkeit. Er mußte herauszufinden versuchen, was die Überseele war, was sie wollte, was sie mit seiner Familie und mit ihm vorhatte. Er mußte lernen, die Überseele zu verstehen und sie dazu bringen, ihn in Ruhe zu lassen.

4

Masken

Es war sinnlos, so spät an einem Schultag noch zu Mutters Haus zurückzukehren. Wahrscheinlich würde er den Rest der Unterrichtszeit allein für die Erklärung benötigen, wieso er einfach gegangen war. Er konnte bis morgen damit warten, sich Entschuldigungen auszudenken.

Vielleicht würde er auch niemals zurückgehen. Ja, warum eigentlich nicht? Mebbekew ging schließlich auch nicht zur Schule. Eigentlich tat er überhaupt nichts, kam nicht einmal nach Hause, wenn er keine Lust dazu hatte.

Wann hatte das angefangen? Hatte Meb das schon mit vierzehn Jahren gemacht? Nafai konnte jedenfalls jetzt damit anfangen, und wer sollte ihn aufhalten? Er war so groß wie ein Mann, und er war alt genug, um in einem Männerberuf zu arbeiten. Aber nicht in Vaters Gewerbe – niemals das Pflanzengeschäft. Wenn man diesem Beruf lange genug nachging, hatte man im Dunkeln neben Wüstenstraßen Visionen.

Aber es gab andere Berufe. Vielleicht konnte Nafai bei einem Künstler in die Lehre gehen. Ein Dichter oder ein Sänger – Nafais Stimme war jung, aber er konnte einen Ton halten, und mit der richtigen Ausbildung könnte er vielleicht sogar ziemlich gut werden. Oder vielleicht war er eigentlich ein Tänzer oder ein Schauspieler, trotz Mutters Scherz an diesem Morgen. Diese Künste bedurften keiner Schulausbildung – wollte er eine davon ausüben, wäre es sowieso Zeitverschwendung, bei Mutter zu bleiben.

Diese Vorstellung beschäftigte ihn den gesamten Nachmittag über und ließ ihn zuerst in südliche Richtung wandern, zum inneren Markt, wo er Liedern und Gedichten lauschen konnte und es vielleicht sogar einen schönen neuen Mjachik zu kaufen gab, den er sich zu Hause anhören konnte. Natürlich würde Mutter zweifellos sein Taschengeld für Mjachiks streichen, wenn er der Schule fernblieb. Doch als Lehrling würde er wahrscheinlich auch ein kleines Taschengeld bekommen, und wenn nicht, würde es ihm auch nichts ausmachen. Er würde wahre Kunst vorführen. Bald würde er Aufzeichnungen von Kunst in kleinen Glaskugeln nicht einmal mehr haben wollen.