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Als er den inneren Markt erreichte, hatte er sich eingeredet, kein Interesse mehr an Aufzeichnungen zu haben, nun, da er bald einen Beruf ergreifen und echte Kunst schaffen würde. Er wandte sich nach Osten, durch die Viertel namens Pferche und Gärten und Olivenhain, ein paar enge, hausumsäumte Straßen zwischen der Stadtmauer und dem Rand des Tals, das Männer nicht besuchen durften. Schließlich gelangte er an den schmälsten Ort überhaupt, eine einzige Straße mit einer hohen, weißen Mauer hinter den Häusern, damit die Männer, die auf der roten Stadtmauer standen, nicht über die Häuser und ins Tal sehen konnten. Er war in seinem ganzen Leben nur ein paar Mal hier gewesen, und niemals allein.

Niemals allein, weil die Puppenstadt ein Viertel für Gesellschaft und Kameradschaft war, in dem man in großen Menschenmengen saß und sich Tänze und Stücke ansah oder Rezitationen und Konzerten lauschte. Nun jedoch kam Nafai als Künstler in die Puppenstadt, nicht als Teil des Publikums. Er suchte keine Gesellschaft, sondern einen Beruf.

Die Sonne war noch nicht untergegangen, und daher waren die Straßen fast noch leer. Die Dämmerung würde die ausgelassenen Lehrlinge und Schuljungen aus den Häusern locken, und die vollständige Dunkelheit die Liebenden und die Genießer und die Feiernden. Doch auch jetzt, am späten Nachmittag, hatten schon einige Theater geöffnet, und die Galerien tätigten im Tageslicht gute Geschäfte.

Nafai betrat mehrere dieser Galerien eher aus dem Grund, weil sie geöffnet hatten, als daß er ernsthaft in Erwägung zog, er könne sich bei einem Maler oder Bildhauer als Lehrling bewerben. Nafais Begabung fürs Zeichnen war niemals herausragend gewesen, und als er sich als Kind an der Bildhauerei versucht hatte, hatten alle seine Skulpturen Titel getragen, damit die Leute wußten, was sie darstellen sollten. Als Nafai die Galerien durchstöberte, versuchte er, einen nachdenklichen und eifrig bemühten Eindruck zu machen, doch die Kunstverkäufer ließen sich nie täuschen – Nafai mochte zwar so groß wie ein Mann sein, war jedoch noch viel zu jung, um ein wichtiger Kunde zu sein. Also kamen sie nicht zu ihm und sprachen ihn an, wie sie es taten, wenn Erwachsene die Läden betraten. Er mußte seine Informationen aus Gesprächen zusammentragen, die er zufällig mithören konnte. Natürlich waren die Originale für ihn völlig unerschwinglich, doch sogar die Hologrammkopien mit hoher Auflösung waren viel zu teuer, als daß er auch nur davon träumen konnte, eine zu erstehen. Am schlimmsten war die Tatsache, daß die Gemälde und Skulpturen, die ihm am besten gefielen, unweigerlich die teuersten waren. Vielleicht bedeutete das, daß er einen ausgezeichneten Geschmack hatte. Oder es bedeutete, daß der Künstler, der wußte, wie er die Unwissenden beeindrucken konnte, das meiste Geld verdiente.

Schließlich wurde es ihm in den Galerien langweilig. Entschlossen, endlich herauszufinden, in welcher Kunst seine Zukunft lag, wanderte er zum Offenen Theater, einer Reihe winziger Bühnen, die die breiten Rasenflächen vor der Mauer bevölkerten. Dort wurden ein paar Stücke geprobt. Da praktisch noch kein Publikum vorhanden war, waren die Tonblasen noch nicht eingeschaltet, und als Nafai von Bühne zu Bühne ging, drangen die Geräusche der entfernteren Bühnen zu ihm vor, wann immer auf der, vor der er stand, eine Pause eingelegt wurde. Nach einer Weile fand Nafai jedoch heraus, daß er die anderen Geräusche nicht mehr bemerkte, wenn er eine Probe nur lange genug beobachtete, daß er etwas von dem Inhalt mitbekam.

Am meisten interessierte ihn eine Truppe Satiriker. Er war schon immer der Ansicht gewesen, daß die Satire die aufregendste Theaterkunst darstellte, da die Manuskripte immer so neu waren wie der Klatsch von heute. Und genau, wie er es sich vorgestellt hatte, war der Satiriker bei der Probe anwesend, kritzelte seine Verse auf Papier – auf Papier – und gab die Zettel einem Scriptjungen, der sie zur Bühne brachte und den Schauspielern gab, für die sie bestimmt waren. Die Schauspieler, die sich im Augenblick nicht auf der Bühne befanden, schritten entweder auf dem Rasen auf und ab oder saßen dort und wiederholten ihre Texte immer wieder, um sie sich für die heutige Aufführung einzuprägen. Deshalb waren Satiren mit ihren plötzlichen Leerläufen und absurden Trugschlüssen handwerklich immer schlampig und ungelenk. Doch niemand erwartete, daß eine Satire gut sein mußte – sie mußte nur lustig und gemein und neu sein.

Bei dieser Satire hier schien es um einen alten Mann zu gehen, der Liebestränke verkaufte. Der Maskenträger, der den alten Mann spielte, war offenbar ziemlich jung, nicht älter als zwanzig, und es gelang ihm nicht besonders gut, eine alte Stimme nachzuahmen. Aber das machte ja gerade einen Teil des Spaßes aus – Maskenträger waren fast immer Neulinge, denen es noch nicht gelungen war, bei einer ernsthaften Schauspieltruppe eine Rolle zu bekommen. Sie behaupteten, Masken statt Make-up zu tragen, um sich vor der Rache wütender Opfer der Satire zu schützen – doch als Nafai sie nun beobachtete, kam er zum Schluß, daß die Maske den jungen Schauspieler wohl eher vor dem Spott seiner erfahrenen Kollegen schützen sollte.

Der Nachmittag war heiß geworden, und einige Schauspieler hatten die Hemden ausgezogen; die mit heller Haut schienen völlig vergessen zu haben, daß sie sich einen Sonnenbrand zuzogen, der ihre Haut tomatenrot färben würde. Nafai lachte insgeheim über den Gedanken, daß die Maskenträger wohl die einzigen Menschen in Basilika waren, die überall einen Sonnenbrand bekommen konnten, nur nicht im Gesicht.

Der Scriptjunge gab einem Schauspieler, der im Gras gesessen hatte, ein Blatt. Der junge Mann betrachtete es, stand dann auf und ging zum Satiriker.

»Das kann ich nicht vortragen«, sagte er.

Da der Satiriker Nafai den Rücken zuwandte, konnte dieser die Antwort nicht verstehen.

»Was, ist mein Teil so unwichtig, daß sich mein Text nicht reimen muß?«

Nun war die Antwort des Satirikers laut genug, daß Nafai ein paar Brocken verstehen konnte, die mit der Aufforderung endeten: »Dann schreib die Sache doch selbst!«

Der junge Mann zog wütend die Maske vom Gesicht. »Einen schlechteren Text könnte ich auch nicht schreiben!« rief er.

Der Satiriker brach in Gelächter aus. »Wahrscheinlich nicht«, sagte er. »Mach schon, versuch es mal, ich habe keine Zeit, bei jeder Szene brillant zu sein.«

Etwas besänftigt setzte der junge Mann die Maske wieder auf. Doch Nafai ‚hatte genug gesehen. Denn der junge Maskenträger, der verlangte, daß sein Text sich reimte, war kein anderer als Nafais Bruder Mebbekew.

Also war das seine Einkommensquelle. Er hatte gar keine Kredite aufgenommen. Die Idee, die Nafai so klug vorgekommen war – eine Lehrstelle bei einem Künstler anzunehmen, die ihm die Unabhängigkeit einbrachte –, war Mebbekew schon längst in den Sinn gekommen, und er hatte sie in die Tat umgesetzt. In gewisser Hinsicht eine ermutigende Feststellung – wenn Mebbekew es kann, kann ich es auch –, doch in anderer Hinsicht war es geradezu deprimierend, daß Nafai ausgerechnet in Mebbekews Fußstapfen treten wollte. Meb, der Bruder, der ihn sein ganzes Leben lang gehaßt hatte und nicht erst, wie Elja, seit neuestem. Wurde ich dazu geboren? Damit aus mir ein zweiter Mebbekew wird?

Dann kam ihm der häßlichste Gedanke überhaupt. Wäre es nicht ein Heidenspaß, wenn ich Jahre nach Meb den Schauspielerberuf antreten und sofort eine Anstellung bei einer richtigen Truppe bekommen würde? Das wäre so köstlich erniedrigend; Meb würde sich vor Wut umbringen.