Doch als er ihn eingeholt hatte, sah er, daß Meb nicht nur außer Atem war. Er weinte, nicht vor Kummer, sondern vor Zorn, und als Nafai neben ihn trat, schlug Meb mit der Faust gegen die Wand. »Wie konnte er mir das nur antun!« sagte Meb immer wieder. »Dieses selbstsüchtige Arschloch!«
»Laß es dir nicht zu nahe gehen«, sagte Nafai, um ihn zu trösten. »Drotik ist es nicht wert.«
»Nicht Drotik, du Idiot!« schrie Meb. »Drotik ist genau der, für den ich ihn immer gehalten habe. Aber jetzt habe ich mein Engagement verloren, und ich werde nie wieder eins bekommen, denn Drotik wird überall verbreiten, daß ich drei Stunden vor der Premiere die Brocken hingeschmissen habe.«
»Auf wen bist du dann wütend?«
»Auf Vater! Was denkst du denn? Eine Vision – ich kann es nicht glauben, ich dachte, Drotik würde mir sagen, daß er nicht Vater verspotten wollte, sondern einen anderen, und wie käme ich denn darauf, daß er den Wetschik meinte, nur ein Holzkopf käme auf die Idee, daß der ehrwürdige Wetschik glaubt, die erstaunliche, unglaubliche Überseele würde ihm Visionen eingeben!«
»Mutter glaubt ihm«, sagte Nafai.
»Mutter hat seit dem Jahr, da du gezeugt wurdest, jedes Jahr seinen Vertrag verlängert! Offensichtlich ist sie genau die richtige, auf deren Urteil wir Wert legen müssen. Glaubst du ihm denn? Glaubt ihm irgend jemand, der nicht mit ihm geschlafen hat?«
»Keine Ahnung. Ich weiß nicht mal, wer von der Sache gehört hat.«
»Ich will dir was sagen. In sechs Stunden wird ganz Basilika davon wissen, ganz Basilika! Ich würde ihn am liebsten umbringen, diesen eitlen, alten Geck!«
»Beruhige dich, du meinst das doch nicht so …«
»Ach nein? Glaubst du mir nicht, daß ich ihm diese Faust am liebsten ins Gesicht schmettern würde?« Meb drehte sich um und schrie seinen nächsten Satz einem unbeteiligten Passanten entgegen. »Ich werde dir ein paar Visionen zeigen, du klotzköpfiger Unkrautjäter!«
Auf der Straße blieben die Leute stehen und sahen zu ihnen hinüber.
»Genau«, sagte Nafai. »Vater bringt dich in eine peinliche Lage.«
»Ich habe dich nicht gebeten, mir zu folgen. Du bist mir doch nachgelaufen! Wenn dir meine Gesellschaft nicht paßt, dann verschwinde doch; es ist mir völlig egal!«
»Gehen wir nach Hause«, sagte Nafai, weil ihm nichts anderes einfiel.
5
Räder
Nach Hause wollte Nafai bestimmt nicht, nicht an diesem Abend. Er hatte gehofft, Vater wäre unterwegs, damit Meb sich beruhigen konnte, bevor sie miteinander sprachen. Aber nein, natürlich nicht, Vater wollte mit Meb sprechen. Er hatte bereits eine Stunde lang mit Elemak gesprochen – Nafai war nicht so erschöpft, daß er diese Szene verpaßt hätte – und schien nun der völlig falschen Vorstellung nachzuhängen, er könne Meb vielleicht überzeugen, an seine Vision zu glauben.
Das Gebrüll fing an, als Mebbekew Vater im Arbeitszimmer fand. Nafai hatte schon öfter mitbekommen, wozu diese Streitigkeiten führten, und zog sich schnell auf sein Zimmer zurück. Als er über den Hof ging, erhaschte er einen Blick auf Issib, der verstohlen aus seinem Zimmer spähte. Noch ein Flüchtling, dachte Nafai.
Die erste Stunde über konnte man nur das leise Murmeln von Vaters Stimme hören, der wahrscheinlich versuchte, seine Vision zu beschreiben, aber alle paar Minuten von Mebbekews klaren, scharfen Kommentaren unterbrochen wurde, die von Anklagen bis zum Hohn reichten. Dann kam schließlich heraus, inmitten von Mebbekews Beschwerden, Vater erniedrige die Familie, daß Meb schon das seine getan hatte, um die Familie in schlechten Ruf zu bringen, indem er als Maskenträger gearbeitet hatte. Nun war es an Vater, laute Vorwürfe zu brüllen, und an Mebbekew, sich zu erklären, was zu einer weiteren Stunde des Streits führte, bis Meb wütend das Haus verließ und Vater zu den Ställen ging, um die Tiere zu versorgen, bis er sich wieder beruhigt hatte.
Erst dann wagte sich Nafai, der mittlerweile wirklich halb verhungert war, zu seiner ersten anständigen Mahlzeit dieses Tages in die Küche. Zu seiner Überraschung war Elemak dort; er saß mit Issib am Tisch.
»Elja, ich habe nicht gewußt, daß du hier bist«, sagte Nafai.
Elemak sah verblüfft zu ihm auf; dann fiel es ihm wieder ein. »Schon gut«, sagte er. »Ich war heute morgen wütend, aber es war nichts. Vergiß es«, sagte er.
Bei allem, was danach passiert war, hatte Nafai tatsächlich Elemaks Warnung vergessen, sich nicht mehr zu Hause blicken zu lassen. »Ich glaube, ich habe es schon vergessen«, sagte er.
Elemak bedachte ihn mit einem angewiderten Blick und widmete sich wieder seiner Mahlzeit.
»Was habe ich jetzt schon wieder gesagt?«
»Schon gut«, sagte Issib. »Wir überlegen gerade, was wir jetzt tun können.«
Nafai ging zum Kühlschrank und betrachtete die Lebensmittel, die Truzhnischa für solche Gelegenheiten dort verstaut hatte. Er starb vor Hunger, und doch sah nichts besonders verlockend aus. »Sonst ist nichts mehr übrig?«
»Nein, den Rest habe ich in meinen Hosen versteckt«, sagte Issib.
Nafai entschied sich für ein Gericht, das ihm einmal ganz gut geschmeckt hatte, wenngleich er heute abend nicht den geringsten Appetit darauf verspürte. Während er die Mahlzeit erhitzte, drehte er sich um und sah die anderen an. »Und zu welchem Schluß sind wir also gekommen?«
Elemak sah nicht auf.
»Wir sind zu gar keinem Schluß gekommen«, sagte Issib.
»Ach was, bin ich plötzlich das einzige Kind im Haus, während die Männer alle Entscheidungen treffen?«
»Ja, so ziemlich«, sagte Issib.
»Und welche Entscheidungen müßt ihr treffen? Wer hat überhaupt irgendwelche Entscheidungen zu treffen, abgesehen von Vater? Es ist sein Haus, sein Geschäft, sein Geld und sein Name, über den man in ganz Basilika lacht.«
Elemak schüttelte den Kopf. »Nicht in ganz Basilika.«
»Du meinst, es haben noch nicht alle davon gehört?«
»Ich meine«, sagte Elemak, »daß nicht alle darüber lachen.«
»Das werden sie aber, wenn dieses satirische Stück nur lange genug läuft. Ich habe eine Probe gesehen. Meb war wirklich ziemlich gut. Natürlich hat er gekündigt, da es um Vater ging, aber ich glaube, er hat wirklich Talent. Wußtet ihr, daß er singen kann?«
Elemak betrachtete ihn verächtlich. »Bist du wirklich so oberflächlich, Njef?«
»Ja«, sagte Nafai. »Ich bin so oberflächlich, tatsächlich zu glauben, daß unsere peinliche Lage gar nicht so wichtig ist, falls Vater wirklich eine Vision gehabt hat.«
»Wir wissen, daß Vater es gesehen hat«, sagte Elemak. »Das Problem ist nur, was er damit anfängt.«
»Was, die Überseele schickt ihm eine Vision, die ihn vor der Vernichtung der Welt warnen soll, und er soll sie geheim halten?«
»Iß einfach deine Mahlzeit«, sagte Elemak.
»Er erzählt allen Leuten, daß die Überseele von uns verlangt, wir sollten zu den alten Gesetzen und Gebräuchen zurückkehren«, sagte Issib.
»Welchen?«
»Na, allen.«
»Ich meine, welche befolgen wir denn nicht?«
Elemak entschloß sich anscheinend, direkt zur Sache zu kommen. »Er ist zum Klans-Rat gegangen und hat gegen unsere Entscheidung gesprochen, die Potokgavan in ihrem Krieg gegen die Naßköpfe zu unterstützen.«
»Gegen wen?«