Und als er über sich lachte, konnte er endlich einschlafen.
6
Feinde
»Wo hast du den gestrigen Tag verbracht?«
Nafai hatte dieses Gespräch nicht gewollt, doch es ließ sich nicht vermeiden. Mutter nahm nicht hin, daß einer ihrer Schüler einen ganzen Tag lang verschwand, ohne eine Erklärung zu verlangen.
»Ich bin umherspaziert.«
Wie er erwartet hatte, gab sich Mutter damit nicht zufrieden. »Ich habe auch nicht angenommen, daß du geflogen bist«, sagte sie. »Obwohl es mich überrascht, daß du dich nicht irgendwo zusammengerollt und geschlafen hast. Wo bist du gewesen?«
»An ein paar Orten, an denen man sehr viel lernen kann«, sagte Nafai. Er dachte dabei an Gaballufix’ Haus und das Offene Theater, doch Mutter würde seine Worte natürlich interpretieren, wie es ihr genehm war.
»In der Puppenstadt?« fragte sie.
»Da kann man tagsüber nicht viel erleben, Mutter.«
»Und du solltest überhaupt nicht dorthin gehen«, sagte sie. »Oder bist du der Ansicht, daß du schon alles über alles weißt, so daß du deine Ausbildung als abgeschlossen betrachten kannst?«
»Es gibt einige Themen, die du hier nicht lehrst, Mutter.« Erneut die Wahrheit – und doch nicht die Wahrheit.
»Ah«, sagte sie. »Dhelembuvex hatte ganz recht, was dich betrifft.«
O ja, wunderbar. Es ist an der Zeit, deinem kleinen Jungen ein Tantchen zu besorgen.
»Ich hätte es kommen sehen müssen. Dein Körper wächst so schnell – zu schnell, fürchte ich. In jeder anderen Hinsicht bist du noch nicht so reif.«
Das war zuviel für ihn. Er hatte vorgehabt, sich ruhig anzuhören, was sie zu sagen hatte, sie ihre Schlußfolgerungen ziehen zu lassen und dann in die Klasse zurückzugehen, womit die ganze Sache erledigt gewesen wäre. Doch wenn sie glaubte, seine Drüsen würden sein Leben beherrschen, wo doch, wenn überhaupt, sein Geist viel reifer war als sein Körper …
»Bist du wirklich immer so klug, Mutter?«
Sie runzelte die Stirn.
Er wußte, daß er seine Grenzen bereits überschritten hatte, doch nun hatte er einmal angefangen, und die Worte befanden sich in seinem Kopf; also sprach er sie aus. »Du siehst etwas, das du dir nicht erklären kannst, und wenn ein Junge es tut, bist du überzeugt, daß es mit seinem sexuellen Begehren zu tun hat.«
Sie lächelte fast. »Ich kenne mich mit Männern einigermaßen aus, Nafai, und die Vermutung, daß das Verhalten eines Vierzehnjährigen in einem Zusammenhang mit sexuellem Begehren steht, beruht auf zahlreichen Beweisen.«
»Aber ich bin dein Sohn, und du kannst mich noch immer nicht von einer Ziegelmauer unterscheiden.«
»Dann warst du also nicht in der Puppenstadt?«
»Nicht aus den Gründen, die du dir vorstellst.«
»Ah«, sagte sie. »Ich kann mir viele Gründe vorstellen. Aber keiner der möglichen Gründe, aus denen du in die Puppenstadt gegangen bist, deutet darauf hin, daß du eine sehr gute Entscheidung getroffen hast.«
»Ach ja, du bist ja Expertin, was gute Entscheidungen betrifft.«
Sein Sarkasmus kam nicht gut an. »Ich glaube, du vergißt, daß ich deine Mutter und deine Schulherrin bin.«
»Du, Mutter, hast gestern diese beiden Mädchen zu dem Familientreffen eingeladen, und nicht ich.«
»Und das war eine schlechte Entscheidung von mir?«
»Eine äußerst schlechte. Ich traf lange vor Anbruch der Dunkelheit beim Offenen Theater ein, und die Nachricht von Vaters Vision hatte sich dort schon herumgesprochen.«
»Das überrascht mich nicht«, sagte Mutter. »Vater ist direkt zum Klans-Rat gegangen. Danach war es wohl kaum noch ein Geheimnis.«
»Nicht nur seine Vision, Mutter. Sie probten dort bereits eine Satire – und kein Geringerer als Drotik hatte sie geschrieben –, die eine faszinierende kleine Szene in einem Säulengang beinhaltete. Und da die beiden einzigen Anwesenden, die nicht zur Familie gehörten, diese beiden Hexenmädchen waren …«
»Hüte deine Zunge!«
Er verstummte augenblicklich, verspürte aber ein unbestreitbares Gefühl des Triumphes. Ja, Mutter war wütend – doch indem er sie so wütend gemacht hatte, mußte er auch einen wunden Punkt bei ihr getroffen haben.
»Es ist eine ungeheure Beleidigung, daß du sie mit einem so erniedrigenden Mannwort bezeichnest«, sagte Mutter. Ihre Stimme klang jetzt ganz ruhig – also war sie wirklich wütend. »Luet ist eine Seherin, und Huschidh ist eine Entwirrerin. Überdies waren beide völlig diskret und haben kein Wort darüber verlauten lassen.«
»Also hast du sie nicht aus den Augen gelassen, nachdem …«
»Hüte deine Zunge, habe ich gesagt.« Ihre Stimme war kalt wie Eis. »Zu deiner Information, mein kluger, weiser, reifer kleiner Junge, diese Säulengang-Szene in Drotiks Satire … die ich übrigens gesehen habe, und sie war sehr schlecht, so daß ich mir darüber kaum Sorgen machen muß … jedenfalls gab es diese Säulengang-Szene, weil ich, während dein Vater beim Klans-Rat war, zum Stadtrat ging, und als ich dort die Geschichte erzählt habe, berichtete ich auch, was sich im Säulengang zugetragen hat. Warum, fragt mein brillanter Sohn mit einem köstlich dummen Ausdruck auf dem Gesicht? Weil der Rat deines Vaters Vision nur ernst genommen hat, weil Luet ihm geglaubt und festgestellt hat, daß sich seine Vision mit der ihren deckt.«
Mutter hatte es verraten. Mutter hatte Spott und Ruin über die Familie gebracht. Unglaublich. »Ah«, sagte Nafai.
»Ich habe gedacht, du hättest die Dinge etwas anders gesehen.«
»Wie ich sehe, war es kein Fehler, Luet und Huschidh zu dem Familientreffen einzuladen«, sagte Nafai. »Dich hätte man ausschließen müssen.«
Ihre Hand holte aus und traf sein Gesicht. Falls sie auf seine Wange gezielt hatte, hatte sie sie jedenfalls verfehlt, vielleicht, weil er instinktiv das Gesicht zurückgezogen hatte. Statt dessen erwischten ihre Fingernägel ihn am Kinn und rissen die Haut auf. Es tat weh und blutete.
»Du vergißt dich, junger Herr«, sagte sie.
»Nicht so sehr, wie du dich vergessen hast, Herrin«, antwortete er. Oder besser gesagt, wollte er antworten. Er setzte sogar dazu an, doch mitten im Satz wurde ihm die Bedeutung ihrer Tat klar, und die Erkenntnis, daß seine Mutter ihn geschlagen und erniedrigt hatte, ließ ihn in Tränen ausbrechen. »Es tut mir leid«, sagte er. Dabei hatte er eigentlich sagen wollen: Wir kannst du es wagen, ich bin zu alt dafür, ich hasse dich. Doch es war unmöglich, so barsche Worte auszusprechen, wenn man wie ein kleines Kind weinte. Nafai haßte es, daß er immer so schnell in Tränen ausbrach und sich daran auch nichts änderte, als er älter wurde.
»Vielleicht erinnerst du dich beim nächsten Mal daran, mit dem gebührenden Respekt zu mir zu sprechen«, sagte sie. Doch auch sie konnte den scharfen Tonfall nicht aufrecht halten, denn noch während sie sprach, spürte er ihren Arm um seine Schulter, als sie sich neben ihn setzte und ihn tröstete.
Sie begriff natürlich nicht, daß die Weise, wie sie seinen Kopf an ihre Schulter drückte, nur zu der Erniedrigung beitrug und ihn in seinem Entschluß bestärkte, sie als Feind zu betrachten. Wenn sie die Macht hatte, ihn wegen seiner Liebe für sie zum Weinen zu bringen, gab es nur eine mögliche Lösung für ihn: aufhören, sie zu lieben. Das war das letzte Mal, daß sie jemals imstande gewesen war, ihm dies anzutun.
»Du blutest«, sagte sie.
»Es ist nichts«, sagte er.
»Laß es mich abtupfen – hier, mit einem sauberen Taschentuch, nicht mit diesem schrecklichen Fetzen, den du in deiner Tasche hast, du dummer, kleiner Junge.«