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Genau das werde ich in diesem Haus immer sein, nicht wahr? Ein dummer, kleiner Junge. Er löste sich von ihr, unwillig, sich vom Taschentuch am Kinn berühren zu lassen. Doch sie blieb beharrlich und tupfte die Wunde ab, und der weiße Stoff färbte sich überraschend stark mit Blut – also nahm er es ihr aus der Hand und drückte es gegen die Wunde. »Ist wohl ziemlich tief«, sagte er.

»Wenn du nicht zurückgezuckt wärest, hätte ich dich nicht mit den Nägeln am Kinn getroffen.«

Wenn du mich nicht geschlagen hättest, hätten mich deine Nägel überhaupt nicht getroffen. Doch er hielt die Zunge im Zaum.

»Wie ich sehe, nimmst du dir die Lage unserer Familie sehr zu Herzen, Nafai, aber deine Werte sind etwas verdreht. Was hat der Spott der Satiriker schon zu bedeuten? Jeder weiß, daß jede große Gestalt in der Geschichte Basilikas irgendwann einmal vom Pfeil des Spotts getroffen wurde, und normalerweise genau wegen jener Sache, die sie zu einer bedeutenden Person werden ließ. Das können wir ertragen. Viel wichtiger ist, daß Vaters Vision eine sehr eindeutige Warnung der Überseele war, die unmittelbare Auswirkungen auf das Vorgehen unserer Stadt im Lauf der nächsten Tage, Wochen und Monate haben wird. Die peinliche Situation wird vergehen. Und unter den Frauen, auf die es in dieser Stadt wirklich ankommt, gilt Vater durchaus als bemerkenswerter Mann – ihr Respekt für ihn nimmt zu. Versuche also, deine Betroffenheit darüber beherrschen, daß Vater plötzlich im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht. Alle Kinder in deinem Alter reagieren äußerst empfindlich, wenn man sie in solch eine Verlegenheit bringt, doch mit der Zeit wirst du lernen, daß, Kritik und Spott nicht immer schlecht sind. Es kann sehr wohl für einen sprechen, sich die Feindschaft böser Menschen einzuhandeln.«

Er konnte kaum glauben, daß sie so geringschätzig von ihm dachte und der Ansicht war, er habe so eine Predigt nötig. Glaubte sie wirklich, er scheue sich vor dem Spott der anderen? Hätte sie zugehört, statt eine Predigt zu halten, hätte er ihr vielleicht von Elemaks Warnung berichtet, Vater könne in Gefahr schweben, und von seinem geheimen Besuch in Gaballufix’ Haus. Doch es war klar, daß er in ihren Augen noch immer nichts weiter als ein Kind war. Sie würde seine Warnung nicht ernst nehmen. Statt dessen würde sie ihm wahrscheinlich eine weitere Predigt darüber halten, daß man sich nicht von seinen Ängsten und Sorgen beherrschen lassen durfte, sondern einen kühlen Kopf behalten, sich auf den Unterricht konzentrieren und es den Erwachsenen überlassen mußte, die wirklichen Probleme der Welt zu lösen.

In ihrer Vorstellung bin ich noch sechs Jahre alt, werde ich immer ein Sechsjähriger sein. »Es tut mir leid, Mutter. Ich werde nicht mehr so zu dir sprechen.« Ich bezweifle sogar, daß ich überhaupt noch etwas von Belang zu dir sagen werde, solange du lebst.

»Ich akzeptiere deine Entschuldigung, Nafai, und ich hoffe, daß du auch meine annimmst, dich im Zorn geschlagen zu haben.«

»Natürlich, Mutter.« Ich werde deine Entschuldigung annehmen – wenn du sie mit anbietest und ich glaube, daß du es ernst meinst. Doch in Wirklichkeit, werter, geliebter Brotkorb, dem ich entsprang, hast du dich zu keinem Zeitpunkt unseres Gesprächs bei mir entschuldigt. Du hast nur der Hoffnung Ausdruck verliehen, daß ich eine Entschuldigung annehme, die du mir in Wirklichkeit niemals angeboten hast.

»Ich hoffe, Nafai, daß du deine Studien wieder aufnehmen und diesen Ereignissen in der Stadt nicht erlauben wirst, die normale Routine deines Lebens weiterhin zu stören. Du hast einen sehr scharfen Verstand, und es besteht nicht der geringste Grund für dich, dich von diesen Dingen vom weiteren Schleifen dieses Verstandes ablenken zu lassen.«

Danke für diesen hingeworfenen Brocken Lob, Mutter. Du hast mir gesagt, daß ich kindisch bin, ein Sklave der Lust, und daß man mich zum Schweigen bringen und mir nicht zuhören muß, wenn ich meine Ansichten äußere. Jedem Wort, das aus dem Mund dieses Hexenmädchen kommt, wirst du ernsthafte Beachtung schenken, doch du gehst von der Voraussetzung aus, daß alles, was ich sage, wertlos ist.

»Ja, Mutter«, sagte Nafai. »Aber ich würde im Augenblick lieber nicht in den Klassenraum zurückgehen, wenn du nichts dagegen hast.«

»Natürlich nicht«, sagte sie. »Ich verstehe dich vollkommen.«

Liebe Überseele, verhindere, daß ich lache.

»Ich kann aber nicht zulassen, daß du wieder auf den Straßen herumspazierst, Nafai. Das verstehst du doch sicher? Vaters Vision hat soviel Aufmerksamkeit erregt, daß irgend jemand etwas sagen wird, daß dich wütend machen wird, und ich will nicht, daß du dich prügelst.«

Also machst du dir Sorgen darum, daß ich mich prügele, Mutter? Erinnere dich doch bitte einmal daran, wer hier auf dem Säulengang wen geschlagen hat.

»Warum verbringst du den Tag nicht mit Issib in der Bibliothek? Ich glaube, er wird einen guten Einfluß auf dich haben – er ist immer so ruhig.«

Issib, immer ruhig? Arme Mutter – sie weiß überhaupt nichts über ihre Söhne. Die Frauen verstehen die Männer einfach nicht. Natürlich verstehen die Männer die Frauen nicht besser – aber zumindest reden wir uns nicht ein, wir würden sie verstehen.

»Ja, Mutter. Die Bibliothek wäre prima.«

Sie erhob sich. »Dann geh jetzt. Das Taschentuch kannst du natürlich behalten.«

Sie verließ den Säulengang, ohne abzuwarten und sich zu überzeugen, ob er auch gehorchte.

Er stand augenblicklich auf, ging um den Wandschirm, direkt zur Balustrade und sah über das Spaltental hinaus.

Vom See war nichts zu sehen. Eine dichte Wolke hing im unteren Teil des Tals, und da die Talwände noch über dem Nebel steiler zu werden schienen, würde man auch ohne die Bewölkung den See von dieser Stelle nicht ausmachen können.

Von hier aus konnte er lediglich die weiße Wolke und das dunkle, üppige Grün des Waldes ausmachen, der das Tal umsäumte. Hier und da hoben sich Rauchsäulen aus Kaminen, denn auf den Talhängen wohnten einige Frauen. Vaters Haushälterin, Truznischa, gehörte zu ihnen. Sie hatte ein Haus in dem Bezirk namens Westliche Klippe, einem der zwölf Viertel Basilikas, in denen nur Frauen wohnten, ja, die nur Frauen betreten durften. Die Frauenbezirke waren viel dünner besiedelt als irgendeiner der vierundzwanzig anderen, in denen Männer wohnen (aber natürlich keinen Besitz erwerben) durften, und doch übten sie im Stadtrat eine gewaltige Macht aus, da ihre Abgeordneten immer blockweise abstimmten. Konservative, Religiöse – zweifellos waren das die Ratsfrauen, die am stärksten von der Tatsache beeindruckt waren, daß Luet Vaters Vision bestätigt hatte. Falls sie Vaters Meinung über das Thema Kriegswagen zustimmten, waren nur noch sechs weitere Ratsfrauen nötig, um ein Patt zu erwirken, und sieben, um Gaballufix’ Pläne endgültig zum Scheitern zu bringen.

Es waren eben diese Abgeordneten aus den Frauenvierteln, die sich seit Jahrtausenden weigerten, die dicht besiedelten Offenen Viertel zu unterteilen, irgendeinem Bezirk außerhalb der Stadtmauern ein Stimmrecht im Rat zuzugestehen, den Männern zu erlauben, innerhalb der Mauer Besitz zu erwerben oder irgend etwas zuzulassen, das die absolute Herrschaft der Frauen in Basilika schwächen könnte. Als Nafai nun voller Wut auf seine Mutter über das geheime Tal sah, blieb ihm größtenteils verborgen, wie wunderschön dieser Ort war, voller Geheimnisse und Leben; er stellte nur fest, wie unglaublich wenige Häuser dort standen.

Wie konnte man dieses Tal nur in zwölf Bezirke aufteilen? In einigen mußten sich die drei Frauen, die dort wohnten, als Abgeordnete abwechseln.

Und außerhalb der Stadt, in den winzigen, aber teuren Wohnungen, in denen unverheiratete Männer ohne Haushalt leben mußten, gab es keine gesetzlichen Grundlagen, die eine fairere Behandlung garantierten, nicht einmal Gesetze, die Junggesellen vor ihren Hausherren schützten, oder vor Frauen, deren Versprechungen plötzlich vergessen waren, wenn sie das Interesse an einem Mann verloren, oder auch nur vor gegenseitigen Gewalttätigkeiten. Als Nafai dort stand und über das ungezähmte Grün des Tals blickte, begriff er einen Augenblick lang, wieso ein Mann wie Gaballufix mit Leichtigkeit Männer um sich scharen konnte, die versuchten, etwas Macht in dieser Stadt zu gewinnen, in der Männer jeden Tag und jede Stunde ihres Lebens von Frauen entmutigt wurden.