Выбрать главу

Als dann ein Windstoß über das Tal fuhr, bewegte sich die Wolke, und er konnte den Schimmer eines reflektierten Lichts ausmachen. Die Oberfläche eines Sees, nicht in der Mitte, der tiefsten Stelle des Tals, sondern höher, weiter weg. Instinktiv wandte Nafai den Blick ab. Es war eine Sache, zur Balustrade zu gehen, um seiner Mutter zu trotzen, aber eine ganz andere, den heiligen See zu betrachten, den die Frauen aufsuchten, um dort zu beten. Wenn bei dieser Sache eins klar geworden war, dann, daß es die Überseele vielleicht tatsächlich gab. Es war sinnlos, sich wegen einer so dummen Sache – über den Rand von Mutters Säulengang einen See zu betrachten – ihren Zorn zuzuziehen.

Nafai drehte sich um und eilte hinter den Wandschirm zurück; dabei kam er sich überaus töricht vor. Was, wenn man mich erwischt hätte? Andererseits … und wenn schon? Nein, nur um Mutter zu trotzen, war es das Risiko nicht wert. Er hatte etwas Wichtigeres zu tun. Wenn Mutter sich seine Ängste, Vater könne in Gefahr sein, nicht anhören wollte, mußte er eben selbst etwas unternehmen. Aber zuerst mußte er mehr wissen – über Gaballufix, über die Überseele, über alles.

Einen Augenblick lang spielte er mit dem Gedanken, Luet aufzusuchen und ihr Fragen zu stellen. Sie wußte doch, was es mit der Überseele auf sich hatte, oder nicht? Sie hatte die ganze Zeit über“ Visionen, nicht nur einmal wie Vater. Sicher würde sie ihm einiges erklären können.

Aber sie war eine Frau, und plötzlich wußte Nafai, daß er von keiner Frau irgendeine Hilfe bekommen würde. Im Gegenteil – die Frauen Basilikas lernten von Kindheit an, die Männer zu unterdrücken und ihnen einzureden, sie wären wertlos. Luet würde über ihn lachen und direkt zu Mutter gehen und ihr von seinen Fragen berichten.

Wenn er irgend jemandem vertrauen konnte, dann nur anderen Männern – und auch da gab es nur wenige, da die Gefahr, die Vater drohte, ja von Gaballufix’ Partei kam. Vielleicht konnte er sich der Hilfe dieses Roptats versichern, von dem Elja gesprochen hatte. Oder erst einmal herausfinden, was die Überseele überhaupt so alles tat.

Issib freute sich nicht gerade, ihn zu sehen. »Ich habe zu tun und kann keine Störungen gebrauchen.«

»Das ist die Bibliothek dieses Haushalts«, sagte Nafai. »Hierher kommen wir immer, wenn wir Forschungen betreiben müssen.«

»Siehst du? Du störst mich schon.«

»He, ich habe doch gar nichts gesagt. Ich kam hier herein und war kaum durch die Tür, als du schon auf mir herumgehackt hast.«

»Ich habe gehofft, du würdest rückwärts hinausgehen.«

»Kann ich nicht. Mutter hat mich hierher geschickt.« Nafai trat hinter Issib, der vor seinem Computerterminal bequem in der Luft schwebte. Die Darstellung war etwa dreißig Seiten stark, doch auf jeder Seite standen nur ein paar Wörter, so daß er fast alles auf einen Blick sehen konnte. Wie bei einer Partie Solitaire, bei der Issib einfach Teile von einem Ort zum anderen schob.

Bei diesen Teilen handelte es sich um Wörter in seltsamen Sprachen. Diejenigen, die Nafai erkannte, waren sehr alt.

»Was für eine Sprache ist das?« fragte Nafai und deutete auf ein Wort.

Issib seufzte. »Ich bin ja so froh, daß du mich nicht unterbrichst.«

»Was ist es, eine alte Form des Vijati?«

»Sehr gut. Es ist Slucaja, das dem Obilazati entstammt, der ursprünglichen Form des Vijati. Eine tote Sprache.«

»Weißt du, ich kann Vijati lesen.«

»Ich nicht.«

»Ach, du spezialisierst dich auf uralte, obskure Sprachen, die niemand mehr spricht, einschließlich dir?«

»Ich lerne diese Sprache, ich spüre verlorenen Wörtern nach.«

»Wenn die ganze Sprache tot ist, sind alle Wörter verloren.«

»Wörter, die einmal eine Bedeutung hatten, aber ausgestorben sind oder nur in Redewendungen überlebt haben. Wie ›Tanzbär‹ zum Beispiel. Weißt du, was ein Bär ist?«

»Keine Ahnung. Ich dachte immer, das wäre irgendein anmutiger Vogel.«

»Falsch. Es ist ein uraltes Säugetier. Nur auf der Erde bekannt, glaube ich. Man hat es niemals hierher gebracht. Oder es ist ziemlich bald ausgestorben. Es war größer als ein Mensch, sehr stark. Ein Raubtier.«

»Und es hat getanzt?«

»Mit diesem Ausdruck hat man etwas absurd Unbeholfenes bezeichnet. Wie einen Hund zum Beispiel, der auf den Hinterbeinen geht.«

»Und jetzt bedeutet er das Gegenteil. Seltsam. Wie kann er sich nur so verändert haben?«

»Weil es keine Bären mehr gibt. Die Bedeutung war einmal ganz offensichtlich, weil jeder wußte, was ein Bär ist und wie unbeholfen er aussieht, wenn er tanzt. Aber als die Bären verschwunden waren, konnte sich die Bedeutung beliebig ändern. Heute bezeichnen wir damit eine Person, die äußerst geschickt darin ist, sich aus einer peinlichen gesellschaftlichen Lage zu befreien. Das ist die einzige Gelegenheit, bei der wir das Wort Bär noch benutzen. Und eine Menge Leute schreiben es auch falsch.«

»Toll. Arbeitest du an einem Linguistik-Projekt?«

»Nein.«

»Für wen machst du das denn?«

»Für mich.«

»Du sammelst einfach alte Redewendungen.«

»Verlorene Wörter.«

»Wie Bär? Das Wort ist erhalten geblieben, Issja. Die Bären sind verschwunden.«

»Sehr gut, Njef. Der Kandidat hat hundert Punkte. Und jetzt verschwinde.«

»Du forscht gar nicht über verlorene Wörter. Du forscht über Wörter, die ihre Bedeutung verloren haben, weil es die Sache nicht mehr gibt, auf die sie sich beziehen.«

Issib drehte langsam den Kopf und sah Nafai an. »Solltest du tatsächlich ein Gehirn entwickelt haben?«

Nafai deutete auf den Bildschirm. »Kolesnischa. Das ist ein Wort aus der kunischen Sprache. Du hast die Bedeutung richtig erfaßt – Kriegswagen. Kunisch wird seit zehn Millionen Jahren nicht mehr gesprochen. Heute ist sie nur noch eine Schriftsprache. Und doch hatten sie ein Wort für Kriegswagen. Der erst vor kurzem erfunden worden ist. Das bedeutet, daß es schon vor langer Zeit Kriegswagen gegeben hat.«

Issib lachte. Ein leises Kichern, doch es hielt lange an.

»Was ist los, liege ich da falsch?«

»Ich fasse es nur nicht, das ist alles. Wie offensichtlich es doch ist. Selbst du gehst einfach zu einem Computer-Terminal und begreifst die ganze Sache auf Anhieb. Warum also ist noch niemand darauf gekommen? Warum hat noch niemand bemerkt, daß wir das Wort Wagen schon hatten und wir alle wissen, was es bedeutet, obwohl es doch nach allem, was wir wissen, noch nie irgendeinen Wagen auf der ganzen Welt gegeben hat?«

»Das ist wirklich komisch, oder?«

»Das ist nicht komisch, es ist unheimlich. Sieh dir doch an, was die Naßköpfe mit ihren Kriegswagen machen – ihren Kolesnischety. Sie verschaffen ihnen im Krieg einen entscheidenden Vorteil. Sie errichten ein richtiges Reich, nicht nur ein System aus Allianzen, sondern die wirkliche Herrschaft über Nationen, die sechs Tagesreisen von ihrer Stadt entfernt liegen. Wenn man mit Kriegswagen also so etwas schaffen kann und die Menschen sie schon vor Millionen Jahren hatten … wie konnten wir da jemals vergessen, was ein Kriegswagen ist?«