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Der Mond ging auf. Die Nacht war schon halb vorüber. Die Stadt schlief, einmal abgesehen von der Puppenstadt und dem inneren Markt, und auch dort würde in diesen Tagen der Anspannung und des Aufruhrs, in denen Soldaten über die Straßen patrouillierten, nur eine gedämpfte Stimmung herrschen. In diesem Bezirk jedoch, einem ziemlich sicheren, der nicht über das geringste Nachtleben verfügte, war niemand mehr unterwegs. Nafai wußte nicht, ob die leeren Straßen einen Vor- oder Nachteil für ihn darstellten. Ein Vorteil, weil weniger Leute ihn sehen würden; ein Nachteil, weil er bestimmt erkannt werden würde, falls man ihn sah.

Doch in dieser Nacht half die Überseele ihm, nicht gesehen zu werden. Er blieb in den Schatten, forderte das Schicksal nicht heraus, und als einmal ein Trupp Soldaten vorbeimarschierte, drückte er sich gegen eine Tür, und sie gingen vorbei, ohne ihn zu bemerken.

Das muß die Grenze der Macht der Überseele darstellen, dachte Nafai. Mit Luet, Vater und mir kann die Überseele kommunizieren und Ideen austauschen. Und durch eine Maschine – Issibs Stuhl –, doch wer weiß schon, was das der Überseele abverlangt. Wenn sie direkt in den Geist anderer Menschen eingreift, kann sie nicht viel mehr bewirken, als sie auf ähnliche Weise abzulenken, wie sie die Menschen von verbotenen Ideen fortlenkt. Sie kann die Soldaten nicht von der Straße holen, aber sie kann sie davon abhalten, den Burschen zu bemerken, der in dem dunklen Hauseingang steht, sie kann sie daran hindern, ihn zu überprüfen oder nachzuforschen, was er tat. Sie kann die Wächter am Tor nicht davon abhalten, ihre Pflicht zu tun, aber sie kann dem dösenden Posten einen Traum geben, so daß die Geräusche von Nafais Schritten Teil des Traums sind und er nicht aufsieht.

Und selbst, um dies zu bewirken, muß die Überseele ihre gesamte Aufmerksamkeit in dieser Nacht auf diese Straße richten, dachte Nafai. Auf diesen Ort. Auf mich.

Wohin gehe ich?

Gleichgültig. Ich muß meine Gedanken abschalten und umherwandern. Soll die Überseele mich an der Hand nehmen, wie Luet es tat.

Es war jedoch schwer, den Geist freizuhalten, nicht jede Straße zu erkennen, über die er ging, nicht an all die Menschen oder Geschäfte zu denken, die er auf dieser Straße kannte, und daran, wie sie ihm vielleicht helfen könnten, den Index zu bekommen. Er beschäftigte sich viel zu sehr damit.

Und warum auch nicht, dachte er? Was soll ich denn machen, aufhören, ein bewußt denkendes Lebewesen zu sein? Unendlich dumm werden, damit die Überseele mich beherrschen kann? Ist es mein höchstes Streben im Leben, eine Puppe zu werden?

Nein, kam die Antwort. Sie war so klar wie in der Nacht am Fluß, in der Wüste. Du bist keine Puppe. Du bist hier, weil du dich dazu entschieden hast. Aber wenn du nun meine Stimme hören willst, mußt du deinen Geist leeren. Nicht, weil ich will, daß du dumm bist, sondern damit du mich hören kannst. Schon bald wirst du wieder deinen ganzen Geist, deine ganze Intelligenz brauchen. Dummköpfe kann ich nicht gebrauchen.

Nafai fand sich keuchend an eine Wand gelehnt wieder, als die Stimme verblich. Es war kein Spaß, wenn die Überseele seine Gedanken derart anstieß. Was haben unsere Vorfahren ihren Kindern angetan, als sie uns so veränderten, daß ein Computer uns solche Dinge eingeben kann? Haben in jenen frühen Tagen alle Kinder die Stimme der Überseele so vernommen, wie ich sie jetzt höre? Oder konnten schon immer nur wenige ihre Stimme vernehmen?

Geh weiter. Es fühlte sich wie ein Drang an. Und er ging weiter. Ging weiter, wie er es in den letzten paar Wochen zweimal getan hatte – von Straße zu Straße, fast in einer Trance, ohne zu wissen, wo er war, oder sich darum zu kümmern. Wie er es erst heute nachmittag getan hatte, als er vor den Attentätern geflohen war.

Ich habe nicht einmal eine Waffe.

Der Gedanke kam ihm ganz plötzlich. Riß ihn aus seiner Trance. Er wußte nicht genau, wo er war. Doch dort, halb im Schatten, lag ein Mann auf der Straße. Vielleicht ein Betrunkener. Oder ein Opfer der Tolschocks, Soldaten oder Attentäter. Ein Opfer Gaballufix’.

Nein. Keineswegs ein Opfer. Dort lag einer von Gaballufix’ identischen Soldaten, und nach dem Gestank von Alkohol zu urteilen, lag er nicht dort, weil er verletzt war.

Nafai wäre fast weitergegangen, bis ihm in den Sinn kam, daß dies die beste Verkleidung war, auf die er hoffen konnte. Er würde viel leichter an Gaballufix herankommen, wenn er eins dieser holographischen Soldaten-Kostüme trug – und hier lag solch ein Kostüm, ein Geschenk, das für ihn bestimmt war.

Er kniete neben dem Mann nieder und rollte ihn auf den Rücken. Es war unmöglich, den Kasten zu sehen, der das Hologramm erzeugte, doch er fand ihn, indem er seine Hände über den Mann gleiten ließ und den Kasten an einem Gürtel an der Hüfte ertastete. Er löste den Gürtel, konnte ihn jedoch nur ein paar Zentimeter hochziehen.

Ja, dachte Nafai. Elemak hat gesagt, es sei eine Art Mantel, und der Kasten sei nur ein Teil davon.

Als er das Kästchen den Körper des Mannes hinaufschob, folgte es willig dem Druck seiner Bewegung. Indem er den Mann auf diese und auf jene Seite rollte, konnte er ihm schließlich das Hologramm-Kostüm über die Arme, die Schultern und dann den Kopf des Mannes ziehen.

Erst jetzt begriff Nafai, daß die Überseele ihm mehr gegeben hatte als nur ein Kostüm. Der Mann war kein angeheuerter Schläger mit einer Soldatenverkleidung. Es war Gaballufix selbst.

Sinnlos betrunken, aber ohne jeden Zweifel war es Gaballufix.

Doch was konnte Nafai mit diesem Betrunkenen anfangen? Er hatte den Index bestimmt nicht dabei. Und Nafai gab sich nicht der Täuschung hin, daß ihm Gaballufix’ unsterbliche Dankbarkeit sicher sein würde, wenn er ihn nach Hause schleppte.

Der Narr mußte Roptats Tod gefeiert haben. Hier vor ihm auf der Straße lag ein Mörder, nur, daß er niemals für seine Tat bestraft werden würde. Vielmehr versucht er, sie mir in die Schuhe zu schieben. Zorn brandete in Nafai auf. Er stellte sich vor, den Fuß auf Gaballufix’ Kopf zu setzen und seinen Kopf auf die Straße zu drücken. Es würde ihm so guttun, so …

Töte ihn.

Der Gedanke kam so klar, als habe ihn jemand hinter ihm ausgesprochen.

Nein, dachte Nafai. Das kann ich nicht. Ich kann keinen Menschen töten.

Was glaubst du denn, weshalb ich dich hierher geführt habe? Er ist ein Mörder. Das Gesetz schreibt seinen Tod vor.

Das Gesetz hat meinen Tod verlangt, weil ich den See der Frauen gesehen habe, erwiderte Nafai stumm. Doch mir hat man Gnade erwiesen.

Ich habe dich zum See geführt, Nafai. Wie ich dich hierher geführt habe. Damit du tust, was getan werden muß. Solange er lebt, wirst du den Index niemals bekommen.

Ich kann keinen Menschen töten. Einen hilflosen Mann wie ihn – das wäre Mord.

Es wäre einfach Gerechtigkeit.

Nicht, wenn er durch meine Hand stirbt. Ich hasse ihn zu sehr. Ich will ihn tot sehen. Weil er meine Familie erniedrigt hat. Weil er den Titel meines Vaters gestohlen hat. Weil er unser Vermögen geraubt hat. Weil mein Bruder mich verprügelt hat. Wegen der Soldaten und Tolschocks und weil er meiner Stadt das Licht der Hoffnung genommen hat. Weil er Raschgallivak, diesen guten Mann, in einen schwachen und törichten Narr verwandelt hat. Wegen all dieser Dinge will ich seinen Tod. Doch wenn ich ihn jetzt töte, verhelfe ich nicht der Gerechtigkeit zum Sieg, sondern bin ich ein Feigling und Meuchelmörder.

Er hat versucht, dich zu töten. Er hat seinen Attentätern den Auftrag gegeben.

Das weiß ich. Also wäre es eine private Rache, würde ich ihn jetzt töten.

Denke darüber nach, was du tust, Nafai. Denke.

Ich werde kein Mörder sein.

Genau. Du wirst Menschenleben retten. Es gibt nur eine Hoffnung, diese Welt vor dem Gemetzel zu bewahren, das vor vierzig Millionen Jahren die Erde zerstört hat, und wenn du diesen Mann am Leben läßt, wirst du diese Hoffnung auslöschen. Sollen alle Menschen sterben, die Milliarden Seelen des Planeten Harmonie, damit deine Hände unbefleckt bleiben? Ich sage dir, es ist kein Mord, sondern Gerechtigkeit. Ich habe über ihn Gericht gehalten und ihn für schuldig befunden. Er hat Roptats Tod befohlen und deinen und den deiner Brüder und den deines Vaters. Er plant einen Krieg, der Tausende töten und diese Stadt unterjochen wird. Du verschonst ihn nicht aus Gnade, Nafai, denn nur sein Tod wird eine Gnade für die Stadt und die Menschen sein, die du liebst, eine Gnade für die ganze Welt. Du verschonst ihn aus reiner Eitelkeit. Damit du deine Hände betrachten kannst und sie unbefleckt sind. Doch ich sage dir, wenn du diesen Mann nicht tötest, wird das Blut von Millionen an deinen Händen kleben.