Nein!
Nafais Schrei war um so gequälter, weil er stumm war und auf seinen Geist beschränkt blieb.
Die Stimme in seinem Kopf gab nicht nach: Der Index öffnet die größte Bibliothek auf der Welt, Nafai. Mit ihm ist meinen Dienern alles möglich. Ohne ihn habe ich keine klarere Stimme als die, die du jetzt hörst und die von deinen Ängsten, Hoffnungen und Erwartungen ständig verändert und verzerrt wird. Meine Macht wird weiterhin schwinden, und mein Gesetz wird unter den Menschen abnehmen, bis schließlich die Feuer kommen werden und eine weitere Welt verwüstet werden wird. Der Index, Nafai. Nimm diesem Mann das Leben, wie das Gesetz es verlangt, und dann hole den Index.
Nafai bückte sich und ergriff die elektrische Klinge, die an Gaballufix’ Gürtel befestigt war.
Ich weiß nicht, wie ich damit einen Menschen töten soll. Damit kann man nicht zustechen. Ich kann ihm damit nicht ins Herz stechen.
Der Kopf. Schneide ihm den Kopf ab.
Das kann ich nicht, das kann ich nicht, das kann ich nicht, das kann ich nicht.
Doch Nafai irrte sich. Er konnte es.
Er ergriff Gaballufix am Haar und zog seinen Kopf hoch. Gaballufix bewegte sich – wachte er auf? Nafai hätte sein Haar fast losgelassen, doch Gaballufix wurde sofort wieder ohnmächtig. Nafai schaltete die Klinge ein und drückte sie dann leicht auf die Kehle. Die Klinge summte. Eine Blutlinie erschien. Nafai drückte fester, und die Linie wurde zu einer offenen Wunde, und Blut ergoß sich über die Klinge und zischte laut. Zu spät, um jetzt noch aufzuhören, zu spät. Er drückte fester, fester. Die Klinge grub sich tiefer. Sie stieß auf den Widerstand eines Knochens, doch Nafai drehte den Kopf herum und öffnete damit eine Lücke zwischen den Wirbeln, und nun drang die Klinge mühelos hindurch, und der Kopf löste sich vom Hals.
Nafais Hosen und Hemd waren blutverschmiert, wie sein Gesicht und die Hände. Ich habe einen Menschen getötet, und ich halte seinen Kopf in den Händen. Was bin ich jetzt? Wer bin ich? Wie kann ich besser sein als der Mann, der hier liegt und den ich mit eigenen Händen getötet habe?
Der Index.
Er konnte es nicht ertragen, seine blutbefleckte Kleidung anzubehalten. Fast in Panik riß er sie sich vom Leib und wischte sich dann Gesicht und Hände mit dem unverschmutzten seines Hemds ab. Das war die Kleidung, die Luet mir gab, als ich an jenem wunderschönen, friedlichen Ort wieder ins Boot kletterte, und wie sieht sie jetzt aus?
Als er nun neben der Leiche kniete und seine eigene Kleidung im Blut des Toten lag, bemerkte er, daß wegen der Neigung der Straße Gaballufix’ Kleidung zum großen Teil nicht mit Blut verschmiert war. Nafai konnte nicht nackt herumlaufen. Das Kostüm genügte nicht – darunter würde er frieren, und außerdem mußte er dann barfuß gehen.
Als ihm der Gedanke kam, Gaballufix’ Kleidung anzuziehen, kam er ihm abscheulich vor, ja, doch gleichzeitig wußte er, daß es keine andere Möglichkeit gab. Er zerrte die Leiche ein Stück von der Blutlache fort und zog sie dann aus, wobei er sorgsam darauf achtete, die Kleidung nicht zu beschmutzen. Er hätte sich fast übergeben, als er die kalten, nassen Hosen anzug, doch dann dachte er verächtlich daran, daß ein Mann, der töten konnte, kaum weinerlich sein durfte, wenn er die Pisse eines anderen Menschen an seinen Beinen spürte. Bei dem nach Magensäure stinkenden Hemd und der Körperrüstung, die Gaballufix getragen hatte, erging es ihm ähnlich. Jetzt ist für mich keine Tat mehr zu schrecklich, dachte Nafai. Ich bin bereits verloren.
Doch trotz allem könnte er sich nicht überwinden, die Klinge an seinem Gürtel zu befestigen. Statt dessen wischte er seine Fingerabdrücke vom Griff und warf sie neben den Kopf. Dann lachte er. Da liegt meine Kleidung, in der mich heute unzählige Zeugen gesehen haben. Warum versuche ich, meine Fingerabdrücke zu beseitigen, wenn ich meine Kleidung am Tatort zurücklasse?
Und ich lasse sie zurück, dachte Nafai. Wie meine eigene Leiche. Das Kostüm eines Kindes. Jetzt trage ich Männerkleidung. Und nicht die eines beliebigen Mannes, sondern die des abscheulichsten, monströsesten Mannes, den ich kenne. Sie paßt mir gut.
Er zog den Mantel des Soldatenkostüms über den Kopf. Er fühlte sich nicht anders, nahm aber an, daß er nun aussah wie ein jeder von Gaballufix’ identischen Soldaten. Er trat von der Leiche zurück. Er wußte nicht, wohin er sich nun wenden sollte. Er konnte keinen klaren Gedanken fassen.
Er drehte sich wieder zu der Leiche um. Er wußte, daß er etwas vergessen hatte. Doch dort lag nur seine alte Kleidung und die Klinge. Also nahm er die Klinge schließlich doch, wischte das Blut mit seinem Hemd ab und steckte sie in den Gürtel.
Jetzt konnte er gehen. Zu Gaballufix’ Haus natürlich. Das wußte er nun sehr genau. Nun konnte er sehr klar denken. Die Hosen gefroren an seinen Beinen und scheuerten ihm die Haut auf. Die Körperrüstung war schwer. Mit der elektrischen Klinge am Gürtel konnte er nur unbeholfen gehen. So fühlt es sich an, Gaballufix zu sein, dachte Nafai. In dieser Nacht bin ich Gaballufix.
Ich muß mich beeilen. Bevor man die Leiche findet.
Nein. Die Überseele wird verhindern, daß sie die Leiche sehen, zumindest für eine Weile. Bis am Morgen so viele Menschen auf den Straßen sind, daß die Überseele sie nicht alle gleichzeitig beeinflussen kann. Also habe ich Zeit.
Er kam zur Brunnenstraße, überlegte es sich dann aber anders. Statt dessen ging er zur Langen Straße und näherte sich Gaballufix’ Haus von hinten. In der Seitengasse fand er die Tür, durch die er vor so vielen – so wenigen – Tagen Elemak das Haus betreten gesehen hatte. Würde sie abgeschlossen sein?
Sie war abgeschlossen. Was nun? Im Haus würde jemand warten. Wache halten. Wie konnte er, in der Verkleidung eines gemeinen Soldaten, zu dieser Stunde Einlaß verlangen? Was, wenn sie ihn zwangen, das Kostüm auszuschalten, sobald er im Haus war? Sie würden ihn sofort erkennen. Schlimmer noch, sie würden Gaballufix’ Kleidung erkennen und begreifen, daß er sie sich nur auf eine Weise verschafft haben konnte.
Nein, auf zwei Weisen.
Aber Gaballufix mußte schon früher betrunken nach Hause gekommen sein.
Nafai versuchte, zuerst stumm, sich daran zu erinnern, wie Gaballufix’ Stimme geklungen hatte. Heiser und rauh. In der Kehle krächzend. Nafai glaubte, sie einigermaßen hinzubekommen – und er mußte natürlich nicht perfekt sein, da Gaballufix ja betrunken war, und deshalb konnte er auch undeutlich sprechen, ja sogar lallen, und er konnte stolpern und wanken …
»Macht auf, macht die Tür auf!« grölte er.
Es war schrecklich, klang ganz und gar nicht nach Gaballufix.
»Macht die Tür auf, ihr Idioten, ich bin’s!«
Schon besser. Und außerdem wird die Überseele sie etwas anstoßen, sie ermuntern, an andere Dinge zu denken, nur nicht daran, daß Gaballufix heute abend wirklich nicht wie sonst klingt.
Die Tür wurde einen Spalt breit geöffnet. Nafai stieß sie augenblicklich ganz auf und zwängte sich hindurch. »Mich aus meinem eigenen Haus auszusperren, man müßte euch in einer Kiste nach Hause schicken, in einzelnen Stücken an eure Eltern.« Nafai hatte keine Ahnung, ob Gaballufix normalerweise so sprach, doch er vermutete eine allgemeine Verdrossenheit und Drohungen, besonders in betrunkenem Zustand. Nafai hatte noch nicht viele Betrunkene gesehen. Nur ein paar Mal auf der Straße, und natürlich ziemlich oft im Theater, aber das waren nur Schauspieler gewesen, die betrunkengetan hatten.